Graue Schatten
Kevin.
Als der vom Industriekaufmann umgeschulte Altenpfleger vor drei Jahren im Sonnenweiß-Stift angefangen hatte, war es Kevin gewesen, der ihm die Ein-Zimmer-Dachgeschoss-Wohnung in seiner Straße, schräg gegenüber seiner eigenen, vermittelt hatte. Die zwei hatten bald einige gemeinsame Interessen entdeckt. Und trotz – oder gerade wegen – der wunderlichen Denkweise seines Kumpels fand Kevin ihn interessant. Er hatte eine Schwäche für schräge Vögel.
Kevin mochte Lockes widersprüchliche Ansichten genauso wie die Gegensätze in dessen Wohnungseinrichtung. Er saß gern auf dem Futon an dem Tatamitisch, über dem der weiße Shiva-Lampenschirm hing, und trank ein Bier. Auch wenn Tisch und Lampe nicht direkt zur keltischen Holztruhe mit dem Sonnenmotiv passten, die vor dem Fenster stand. Selbst wenn Kevin den Blick vom Fenster über die lange Wand entlang bis zur Tür schweifen ließ, sah er keine Ansammlung von Stilbrüchen mehr. Er sah schlicht Lockes bunte Welt.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, hinter den runden weichen Sitzkissen, stand das bis zur Decke gefüllte Bücherregal. Zwischen den überwiegend esoterischen Büchern standen auch ein paar Buddhas aus Speckstein und ein Tibetischer Gong. Daneben ein riesiger, verzierter, antiker Schrank mit goldenen Griffen. Die freie Fläche zwischen Schrank und Tür schmückte ein Wandbehang, auf dem ein – wahrscheinlich lebensgroßer – Ganesha meditierte. Unten auf dem Boden stand eine Wasserpfeife neben einer afrikanischen Djembe. Über der Tür hing ein Poster von Bob Marley. Rechts daneben: ein leuchtend gelbes Kreuz vor schwarzem und grünem Hintergrund – die Jamaika-Flagge. Darunter: die Hi-Fi-Ecke, komplett ausgerüstet von Plattenspieler bis Heimkino. Die vierte Seite des Zimmers bestand fast vollständig aus der Dachschräge, unter der zwei Futons lagen.
Auf dem einen lümmelte also Kevin und öffnete eine weitere Flasche Bier. Wenn Locke gerade keine feste Freundin – oder Schülerin, wie er sie nannte – hatte, saßen die beiden hier mindestens ein, zwei Mal in der Woche zusammen. Das war immer periodisch für einige Wochen oder Monate der Fall. Dazwischen lagen Pausen von bis zu einem halben Jahr. Während dieser Zeiträume war Locke dann immer so intensiv mit seiner jeweiligen Schülerin beschäftigt, dass er für Kevin kaum Zeit hatte. Oder er befand sich in einer seiner intensiven Entwicklungsphasen auf dem Weg zu einer neuen Energieebene.
Betti hatte immer über diese Treffen geschimpft. Sie mochte Locke nicht besonders, obwohl sie, rein rational betrachtet, keinen Grund dazu hatte. Vermutlich war es so etwas wie Eifersucht. Aber in einer Partnerschaft, die schon so lange anhielt, brauchte nun einmal jeder seine kleinen Freiheiten. Auch Betti hatte ihre gehabt.
Heute jedenfalls wurde Kevins wiedergewonnene Freiheit gefeiert. Zumindest bezeichnete Locke das so. Kevin hatte zwei AC-DC-CDs mitgebracht – Relikte aus einer Zeit, zu der er noch seine langen Haare zu Hardrock geschüttelt hatte. Das war an die fünfzehn Jahre her gewesen. Kevins Musikgeschmack hatte sich danach mehrmals gewandelt. Und inzwischen waren nicht nur die langen Haare weg, sondern nun auch seine Freundin. Nicht, dass ihn das groß erschütterte. Aber irgendwie hatte er das Bedürfnis gehabt, seine verstaubte CD-Sammlung nach Zeugen seiner aggressiven Phase zu durchstöbern und ein bisschen die Pubertät wiederzubeleben.
Nach dem ersten Joint spielten die beiden nun zum Kreischen aus den Lautsprecherboxen Luftgitarre, bis der Nachbar von unten an die Decke klopfte. Daraufhin schalteten sie einen Gang zurück, hörten, etwas leiser, Santana und unterhielten sich dabei über Rockkonzerte, die sie besucht hatten.
Irgendwann landete das Gespräch doch wieder beim scheinbar unausweichlichen Thema Arbeit. Kevin fragte Locke, was sie gerade in der Abendschule durchnähmen. Kevin glaubte nicht, dass der verkappte Medizinmann die Heilpraktiker-Prüfungen bestehen, geschweige denn sich irgendwann als Heilpraktiker selbstständig machen würde. Er hatte zwar ein Händchen fürs Geschäftliche, war aber in Kevins Augen gleichzeitig auch ein Spinner. Locke hatte ein paar bizarre Freunde in der Esoterik-Szene und diverse Ansichten über Heilung, die Kevin nicht ganz nachvollziehen konnte. Mehreren Kollegen im Schattengrau hatte er schon Naturheilmittel und Bachblütentropfen verkauft. Auch hatte er es tatsächlich schon geschafft, einigen seiner
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