Graue Schatten
schon mit der Übergabe begonnen, als Kevin fünf Minuten zu spät ins Schwesternzimmer schlenderte. Renate unterbrach kurz, um anzumerken, dass Kevin furchtbar aussehe. Er entgegnete, er brauche lediglich einen Kaffee, dann sei er fit wie Baumann auf der Fünftausend-Meter-Bahn. Larissa fragte ihn noch einmal mit besorgter Miene, ob wirklich alles klar sei und ob sich Betti gestern Abend noch gemeldet habe. Er beantwortete beide Fragen mit „Ja“ und „Nein“, setzte sich und schenkte sich Kaffee ein. Die Übergabe wurde fortgesetzt und Kevin stellte seine Ohren auf Durchzug.
Für ihn waren nun nach zehn Nachtschichten zwei freie Tage und nach einem langen Abend im Rausch vier Stunden Schlaf vorbei. Er gähnte ununterbrochen. Seit Montagmorgen plagten ihn jede Nacht Albträume. Jedes Mal wachte er schweißgebadet und von Leichen verfolgt auf. Der Traum letzte Nacht allerdings war der bisher schlimmste gewesen.
Er spürte, wie bei dem Gedanken daran sein Puls zu rasen begann, obwohl er seit einigen Minuten seine Beine ausstreckte und sich nicht bewegte. Werde ich schon alt?, fragte er sich. Urlaub könnte man gebrauchen! Am besten zwei Wochen. Aber leider hatte er nur noch zwei Tage. Wahrscheinlich war das alles doch ein bisschen viel gewesen, mutmaßte er. Die Nachtschichten, die drei Unglücksfälle mit tödlichem Ausgang und dann noch das mit Betti.
Ihm kam es vor, als hätte er die gleiche Situation schon mehrmals erlebt: Lediglich körperlich anwesend, nahm er die angeregte Unterhaltung im Raum als eine Art fremdartiges, modernes Musikstück wahr. Sein Brummschädel weigerte sich, dem Gespräch zu folgen. Stattdessen musste er wieder an Betti denken. An ihren Abschiedsbrief, der am Montagmorgen an der Garderobe geklebt hatte. Ihre vorwurfsvollen Zeilen waren ihm irgendwie wirr vorgekommen. Er konnte keinen rechten Sinn in einigen der Bemerkungen erkennen, die sie da – anscheinend recht aufgebracht – hingekritzelt hatte.
Komischerweise fehlte ihm Betti. Obwohl sie ihn in der letzten Zeit mit ihrer Gereiztheit nur noch genervt hatte. Schnell verdrängte er die Gedanken an sie.
Der Geräuschpegel um ihn herum wuchs. Momentan erhitzten sich die Gemüter um Inkontinenzeinlagen. Darüber, wie viel man sie unbedingt auslasten musste oder andererseits maximal auslasten durfte. Wie man so früh am Morgen schon so viel quatschen kann, dachte Kevin. Schräg gegenüber von ihm am Tisch saß Anna. Sie diskutierte eifrig mit, obwohl sie zwischen acht und achtzehn Jahre weniger Erfahrung als die anderen drei mitbrachte.
Kevin dehnte sich, nippte am heißen Kaffee und nahm sich vor, noch fünfzehn Minuten seine Kräfte zu schonen, bevor es los ging. Bevor Renate den Startschuss für den zweieinhalbstündigen Marathon abfeuern würde. Bevor er im Laufschritt die Untoten aus den Betten holen, sie waschen, ihre Verbände und Einlagen wechseln und sie zum Frühstück an den Tisch setzen würde. Und das mitten in der Nacht.
Die Sinfonie der Unterhaltung schwoll weiter an, das Brummen in Kevins Kopf steigerte sich zu einem Hämmern. Der Kaffee half an diesem Morgen wenig. Kevin fixierte die Zeiger der Wanduhr, um sie mittels Geisteskraft dazu zu bewegen zu rasen, wie die einer Funkuhr, die sich selber stellte. Sechs Stunden später könnten sie dann wieder normal laufen.
„Alles klar, Kevin?“
Renates Frage holte ihn unsanft in die Realität. Das unangenehme Gefühl beschlich ihn, es sei bei der Übergabe zuletzt irgendwie um ihn gegangen. Irgendwas hatte er wohl gerade verpasst. „Ja, ja“, antwortete er vorsichtshalber, eifrig nickend.
„Erde an Kevin“, kicherte Anna.
Das ist doch eine viel angenehmere Art geweckt zu werden, dachte Kevin. Er grinste die Kleine mit den roten struppigen Haaren eine Weile frech an. Er wusste, sie würde verlegen werden. Obwohl sie bald neunzehn wurde, fiel ihm immer wieder der alte Song Sweet Little Sixteen ein, sobald er sie sah.
Während in Kevins Kopf Billy Idol sang, arbeitete Tom die letzten Bewohnerkarteien im Schnelldurchlauf ab.
„Frau und Herr Brillwitz nix, Frau Ziehmer keinen Durchfall mehr, Frau Scheuerle nach zehn Tropfen Mogadan durchgeschlafen.“
„Bin ich Kino, oder was?“, schrillte Annas Stimme plötzlich dazwischen.
Damit meinte sie Kevin, der sie immer noch unverschämt lächelnd anschaute. Er hatte es geschafft. Ihr Gesicht war jetzt fast so rot wie ihre Haare.
„Könnt ihr euch vielleicht nach der Übergabe weiter necken?“, ging Renate
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