Graue Schatten
Eintragung war von der Nachtwache gemacht und am Mittwochmorgen, 6.30 Uhr, mit TM, also Tom Markwart, abgezeichnet worden. Er schrieb: BW bei jedem Rundgang wach, ließ sich nicht auf Toilette bringen – obwohl wach, hat nach mir geschlagen, konnte mit Mühe und Not gelbe Einlage anlegen, morgens nass.
4.30 Uhr, BW lag vor der Toilettentür im Dunkeln auf dem Boden, wahrscheinlich selbst aufgestanden, gestürzt, keine sichtbare Verletzung, äußert keine Schmerzen.
Bitte Hausarzt fragen, wegen Erhöhung der Dosis für das Beruhigungsmittel am Abend.
Kevin las noch die restlichen fünf Eintragungen: Am Mittwochmorgen hatte die Frau gar nicht mehr laufen wollen und hatte beim Aufstehen geschrien. Dr. Hansen war angerufen worden. Der hatte dann den Verdacht geäußert, dass sie auf der rechten Seite einen Oberschenkelhalsbruch haben könnte und vermutlich wegen der Schmerzen so langsam lief. Er hatte die Frau zum Röntgen überwiesen und die abendliche Dosis Diazepam erhöht.
Kevin runzelte die Stirn und schüttelte unbewusst den Kopf. Ausgerechnet Diazepam! Das war wieder mal typisch Hansen. Einmal verschrieb er lächerlich wenig und dann wieder zu viel, je nachdem, wer den Wunsch vortrug.
Und dann wundern, wenn diese Frau Müller den halben Tag in den Seilen hängt und nicht richtig laufen kann, dachte Kevin.
„Ist was unklar, Kevin?“, schallte Renates Stimme herüber. Kevin winkte nur ab und las weiter: Ein Termin fürs Röntgen im Krankenhaus in Heilbronn Gesundbrunnen war ausgemacht worden, für heute zehn Uhr!
Aha, darum ging es also vorhin, mutmaßte Kevin. Sie sollte fertig sein, bevor er frühstücken gehen würde. Wo ist das Problem, wenn ich sie gleich als Erste mache? ... Weiter: Gestern Abend hatte die gute Frau scheinbar absichtlich einen Becher Tee über den Tisch ausgeleert, dabei sei ihre Tischnachbarin so nass geworden, dass man sie umziehen musste.
Mi. 19.30 Uhr: die BW ist nicht kooperativ, eher stur . Interessant! Als man Frau Müller ins Bett bringen wollte, habe sie geschrien.
Hört sich wirklich nach Stress an, dachte Kevin. Scheint kein gemütlicher Morgen zu werden. Die Frau ist noch keine zwei Tage auf der Station, da ist schon eine Seite im Doku voll.
Er nahm sich vor ruhig zu bleiben. Und er war zuversichtlich, das zu schaffen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass er, gerade wenn er so übernächtigt wie heute war, alles aus größerer Distanz betrachtete, dass er über den Dingen stand. Alles war ihm scheißegal an so einem Tag, und deshalb wurde er schneller fertig, ohne dass sich jemals jemand über mangelhafte Pflege beschwert hatte.
Larissa und Renate unterhielten sich nach wie vor.
Wortlos reichte Kevin das Kardex über den Tisch. Renate nahm die Mappe und steckte sie in den Wagen, ohne dabei aufzuhören, Larissa zu erläutern, warum es besser sei, die fettleibige Frau Leible mit dem Gurtlift statt mit der Liege in die Badewanne zu heben. Es folgte wieder eine kurze Diskussion, der Kevin unbeteiligt lauschte.
Fünf vor sieben rief Renate: „So liebe Leut, wir sollten pünktlich anfangen. Wir sind heute nur für kurze Zeit gut besetzt.“ Dabei schaute sie Kevin schräg an. Der hatte keine Ahnung, was sie meinte.
Renate verließ das Zimmer, gefolgt von Anna.
Larissa blieb sitzen. Kevin erhob sich schwerfällig und stöhnte: „Oh Herr, lass‘ Abend werden.“
Auch Larissa stand auf und fragte ihn, ob sie wieder Kampftrinken bis zum Umfallen veranstaltet hätten.
„So was machen wir nie“, erwiderte Kevin, nicht ernsthaft beleidigt, und fügte hinzu: „Wir haben wie immer geistreiche Gespräche geführt und dabei unsere Stimmbänder etwas angefeuchtet.“
„Das sieht man“, entgegnete Larissa trocken. „Betti hat sich vermutlich nicht mehr bei dir gemeldet, oder?“, wollte sie dann wissen.
„Kein Problem. Abgehakt“, lautete seine knappe Antwort.
„Was ist am Sonntag bei euch passiert? Sie ist ganz komisch“, bohrte nun Larissa, während die beiden zum Hygienelager gingen.
„Merkst du das auch schon?“ spöttelte Kevin.
„Verarsch mich nicht, Kevin. Sie ist anders als sonst. Wir hatten am Dienstag telefoniert und wollten uns am Mittwoch treffen. Aber seit dem Telefonat habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie ist praktisch nicht erreichbar!“
Sie betraten den fensterlosen Raum, in dem Inkontinenzeinlagen, Pflegeschaum, Berge von Zellstoff und alle anderen Pflegemittel für den täglichen Bedarf lagerten. Nur Anna hantierte noch hier. Renate
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