Graue Schatten
war schon in einem Zimmer am anderen Ende der Station verschwunden.
Kevin schaute gedankenverloren in einen Schrank und hatte noch immer nicht auf Larissas Frage geantwortet. Er holte nur tief Luft.
Larissa hatte es aufgegeben und bepackte wortlos einen Wagen mit Pflegeutensilien.
Was weiß denn ich, was die Tussi hat, dachte Kevin, schlug aber vor: „Ruf sie doch vormittags in der Praxis an.“
Eigentlich wusste er, dass Betti das nicht wollte, weil fast immer ihre Kollegin am Telefon an der Rezeption saß und dann Betti holen musste, obwohl sie selbst im Stress war.
Larissa reagierte auch gar nicht darauf, sondern schob den Wagen aus der Tür. Ohne sich zu ihm umzudrehen, warf sie Kevin noch zu: „Ich hab alles für uns, wir nehmen einen Wagen zu zweit. Du brauchst nur noch den Müllsack mitzubringen.“
„Alles klar“, hörte Kevin sich sagen. Danach drang das Rattern des Pflegewagens, den Larissa den Gang entlang nach hinten schob, an sein Ohr. Hört sich an wie ein Zug, der in die Bahnhofshalle einfährt, dachte Kevin. Neben ihm knisterte eine Plastiktüte im Schrank.
„Das hätte alles die Spätschicht machen sollen, die kriegen's auch nie gebacken. Renate wird denen heute was erzählen“, brabbelte Anna und wedelte mit einer XL-Windel.
Kevin schaute ihr dabei zu, wie sie eifrig Handtücher auf einen Wagen stapelte, in der Hoffnung, dass ihm dabei einfallen würde, was er noch an Pflegemitteln brauchte. „Was hat Larissa gerade gemeint?“, wollte er Anna fast fragen, als es ihm glücklicherweise einfiel. Wortlos verließ er den Raum. Gegenüber ging eine Tür auf und ein Nachtgespenst schwebte mit ausgebreiteten Armen auf Kevin zu.
„Frau Merz!“, stöhnte Kevin.
„Schwäääschdoor“, heulte sie.
„Schwester ...“, kicherte es aus dem Hygienelager. Anna fand es lustig, dass Kevin als Schwester bezeichnet wurde.
Die fast neunzigjährige Frau Merz war barfuß im Nachthemd und ohne Gebissprothese unterwegs auf der Suche nach ein bisschen Zuneigung und ließ sich nun geradewegs in Kevins Arme fallen. Der konnte sie gerade so abfangen und vor einem Sturz auf den harten Boden bewahren.
„Frau Merz, gehen sie doch wieder ins Bett. Die Schwester kommt gleich zu Ihnen.“
„Ich kann nicht ...“
„Frau Merz, sie holen sich eine Erkältung, wenn sie hier barfuß über den Flur laufen.“
Kevin nahm sie an die Hand und führte sie in ihr Zimmer. Frau Merz ließ sich bereitwillig führen.
Anna steckte kurz den Kopf zur Tür herein. „Guten Morgen, Frau Merz. Ich komme gleich zu Ihnen. Gehen sie doch schon mal ins Bad“, sang sie gut gelaunt und war schon wieder verschwunden.
„Danke“, brummte Kevin. Er setzte Frau Merz auf der Toilette ab und entfernte sich schnell, mit der Gewissheit, dass sie sofort wieder aufstehen und hinaus auf den Flur laufen würde.
„Na, spielt sie wieder Sterbender Schwan?“, fragte Anna aus der offenen Tür des Hygienelagers heraus. Sie war noch immer mit ihrem Wagen beschäftigt.
Kevin lehnte sich an den Türrahmen und musterte sie. „Die sucht auch bloß das, was wir alle suchen.“
Sie raunte ihm wieder ein „Blödmann!“ zu, das diesmal relativ verärgert klang, schob ihren Wagen energisch an Kevin vorbei und verschwand mit einer Windel der Größe Medium, zwei Handtüchern und Waschlappen in der Hand im Zimmer von Frau Merz.
Lustlos, aber entschlossen, es hinter sich zu bringen, schritt Kevin den Gang entlang bis ganz nach hinten. Am Pflegewagen, den Larissa am Ende des Ganges abgestellt hatte, angekommen, änderte er den geplanten Ablauf. Er würde zuerst Frau Schmidt wecken, ihr in den fahrbaren Toilettenstuhl helfen und sie ins Bad fahren. Dann hätte er schon etwas geschafft, wenn ihn das neue „Problemkind“ doch länger aufhalten sollte. Frau Schmidt würde sich selbst waschen. Sie konnte sich dabei am Waschbecken hochziehen und kurzzeitig stehen.
Also lief er den Gang wieder nach vorn; das Zimmer von Frau Schmidt lag in der anderen Richtung.
Ihre Kleider und eine kleine Einlage nicht vergessen! Letztere nahm er sich im Vorbeigehen von Annas Pflegewagen.
Die zweiundachtzigjährige Frau Schmidt gehörte zu den wenigen Heimbewohnern, die noch klar im Kopf und dazu noch nett waren. Schade, dass die Spezies hier im Haus ausstirbt, dachte Kevin, als er Zimmer 214 betrat.
Else Schmidt wohnte wie fast alle Heimbewohner zusammen mit einer zweiten Person in einer Zwanzig-Quadratmeter-Wohnung. Rechts, gleich neben dem Eingang befand sich
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