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Graue Schatten

Graue Schatten

Titel: Graue Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Nimtsch
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jeweils ein winziger Raum mit Dusche, Waschbecken und WC. Er war gerade groß genug, um einen Rollstuhl mit Mühe und Rangieren wenden zu können. Links befanden sich die Garderobe und der geteilte Kleiderschrank für zwei Personen. Es gab Bewohner, bei denen der Schrank überquoll. Die Pflegekräfte, die den Schrank einräumen mussten, hatten zu tun, alles unterzubringen. Aber hier sah es eher dürftig aus. Geld für neue Kleider war keins vorhanden. Verwandte hatte sie keine. Das Taschengeld, das Frau Schmidt von ihrer Rente gelassen wurde, reichte gerade für den Friseur und manchmal für ein paar Tafeln Schokolade. Sie bekam, so wie viele andere, ab und zu Kleidung von verstorbenen Heimbewohnern. Trotz allem wirkte Frau Schmidt im Großen und Ganzen zufrieden.
    Sie saß schon am Bettrand.
    „Guten Morgen, die Dame!“
    „Ach, da guck mal! Guten Morgen der Herr!“
    Ein bisschen Smalltalk, rein in den Rollstuhl, ab ins Bad. Erledigt.
    „Sie kommen aber noch mal, Herr Kevin, und helfen mir beim Anziehen?“, fragte sie wie immer, aber heute ein wenig besorgter, als er schon draußen auf dem Gang unterwegs zu Zimmer 203 war.
    Dort schliefen zwei bettlägerige Frauen. Sie würden später, nach dem Frühstück, gewaschen werden. Aber beide musste Kevin lagern. Danach hing er bei der einen eine Flasche Flüssignahrung an den Ständer, schloss sie an, trug dies in eine Liste auf dem Nachttisch ein und eilte weiter.
    Ein kurzer Blick auf die Uhr. Schon fünfzehn Minuten seit Ende der Übergabe um! Er stand vor 204, dem Zimmer von Frieda Müller. Okay, Showtime, versuchte er sich für die nächsten zwanzig plus x Minuten zu motivieren.
    Erst mal das Licht an, damit die beiden Langschläfer gleich wissen, was ansteht. „Guten Morgen, zusammen!“
    Er registrierte, dass bei beiden Frauen ein Bettgitter oben war. Frau Donner, am Fenster, faselte etwas, das nur jemand verstehen konnte, der sich mit der Sprache der Verwirrten sehr gut auskannte.
    Die Frau im Bett an der Wand zeigte weder eine Reaktion auf das plötzliche, grelle Licht im Raum, noch auf Kevins Gruß. Wie versteinert war ihr Blick zur Decke gerichtet. Kevin fragte sich sofort, ob sie wohl ein paar Tropfen Diazepam mehr als verordnet bekommen hatte.
    Frau Müller war eine kleine, zierliche Frau. Trotz ihres Alters hatte sie mehr schwarze als graue Haare. Sie lag auf dem Rücken, wie ein preußischer Wachsoldat, der ohne seine Haltung zu verändern umgekippt war: ihre Füße lang ausgestreckt, die Hände über der Bettdecke akkurat an der gedachten Hosennaht angelegt.
    Kevin ließ das Bettgitter herunter und verkündete noch einmal laut und deutlich, ihrer militärischen Haltung angemessen: „Guten Morgen, Frau Müller! Es ist gleich halb acht. Zeit zum Aufstehen! Bald gibt's Frühstück!“
    Keine Reaktion. Es schien, als wären neben ihrem Blick ihre Gesichtszüge, ja, ihr ganzer Körper, erstarrt.
    „Ich helfe Ihnen beim Aufstehen und Waschen, Frau Müller. Darf ich mal die Bettdecke wegziehen?“, kündigte er sein Vorhaben an, so wie er es gelernt hatte. Er versuchte sie wegzuziehen. Keine Chance. Ihre Arme waren wie Schraubzwingen an ihre Oberschenkel gepresst.
    Er überlegte kurz, ob er wiederum die zeitaufwendige schulmäßige Methode anwenden sollte, indem er argumentierte und sie zu motivieren versuchte. Er könnte ihr das Frühstück beschreiben oder ihr vorschwindeln, dass ihre Tochter im Aufenthaltsraum auf sie warten würde.
    Er entschied sich für die Methode der sanften Gewalt, während er vorschriftsmäßig kommentierte: „Also, ich ziehe Ihnen jetzt Ihre Bettdecke weg.“
    Vom Fußende her und mit einem kräftigen Ruck war das im nächsten Moment erledigt. Damit hatte die Frau wohl nicht gerechnet.
    „Neineneinzig, neineneinzig, neinzig!“, schrie sie ihm entgegen, ohne ihre Lage zu verändern.
    Kevin wich erschrocken zurück und musste gleichzeitig unwillkürlich lachen. Weniger wegen des verwirrten Geschreis, als vielmehr wegen des bizarren Anblicks. Die Frau war mit einem Unterhemd und ihrem Nachthemd bekleidet. Letzteres diente ihr allerdings als Hose. Sie war mit ihren dünnen Beinen durch die Armausschnitte geschlüpft und hatte sich das rosarote Nachthemd bis fast zur Brust hochgezogen. So lag sie da wie versteinert.
    „Kommen Sie, ich bringe Sie ins Bad. Da ist es schön warm.“
    Ihm fiel die Eintragung in der Doku ein: „Verdacht auf Oberschenkelhalsbruch rechts“ hatte da gestanden. Schauen wir mal.
    Er fasste sie an der

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