Graue Schatten
noch einmal die Handynummer von Bettina Richter. Als die Mobilbox sich meldete, legte er auf.
„Schade, ein Geständnis hätte uns ein freies Restwochenende verschafft“, maulte Schell.
„Das ist allerdings futsch“, bestätigte Strobe. „Wir sollten auf jeden Fall nach der Haftprüfung heute noch nach Lauffen fahren. Allein schon um diese Else Schmidt zu fragen, ob sie sich an Sonntagnacht erinnern kann.“
„Das glaubst du doch selber nicht, dass sich eine Greisin an eine Nacht erinnert, die sechs Tage zurückliegt.“
„Wer weiß. Diese Bewohnerin aus dem zweiten Stock hat sich ja auch erinnert.“
„Weil ihr Fernseher, ihr einziger Freund, den Geist aufgegeben hatte. Und selbst wenn sie sich erinnern sollte, das würde nichts am Verdacht gegen Linde ändern. Alles spricht doch dafür, dass er es war.“
„Es würde ihn momentan kaum entlasten, wenn diese Schmidt tatsächlich geklingelt hätte, da hast du recht. Aber vergiss nicht, dass wir Jäger und Sammler sind. Bevor wir unser Bild zusammensetzen, ...“
„... sammeln wir möglichst viele Puzzleteile“, ergänzte Schell Strobes Lieblingsspruch. Er hatte ihn sich schon oft genug anhören müssen in der kurzen Zeit, die er in Heilbronn war.
„Richtig, Bub. Und noch haben wir keinen wirklichen Beweis gegen Linde. Manchmal stellt sich eben raus, dass der Augenschein trügt. Dass die Lösung eines Rätsels nicht die ist, die sich aufdrängt. Ich will den Jungen nicht in Schutz nehmen, aber wir haben noch einiges zu überprüfen. Zum Beispiel die Bewohner. Vielleicht sind gar nicht alle so harmlos. Auf der anderen Seite gibt es, so wie es aussieht, auch im Sonnenweiß-Stift einige, die nicht dement und debil sind. Vielleicht gibt es noch weitere Bewohner, die sich an etwas erinnern können. Denen irgendwas in jener Nacht oder auch am Donnerstagmorgen aufgefallen ist. Wir fahren nach Lauffen und informieren uns, welche von den Bewohnern, auch von denen im zweiten Stock und von den Selbstständigen im Erdgeschoss, noch halbwegs bei Verstand sind. Und die befragen wir. Wie das funktioniert, ohne dass wir sie mit unserem Dienstausweis und der Botschaft erschrecken, dass ein Serienmörder sein Unwesen treibt, hab ich dir gestern gezeigt.“
„Wir sind Mitarbeiter des MDK“, erinnerte sich Schell.
„Falls einer der Bewohner so weit im Bilde ist, dass er das nicht glaubt, oder von den Geschehnissen Wind bekommen hat, muss man das Ganze halt runterspielen. Unfall, Routineuntersuchung wegen der Lebensversicherung ... Möglichkeiten gibt's genug. Panik wollen wir schließlich keine hervorrufen. Aber auch nicht den Falschen für Jahre wegsperren.“
Strobe hatte sich in Rage geredet. Schell hatte schon lange resigniert, da schob der Hauptkommissar noch nach: „Außerdem sind wir mit den Mitarbeitern auch noch nicht fertig. Und wir sollten uns nicht nur über Linde erkundigen, sondern versuchen herauszubekommen, ob es noch andere Mitarbeiter gibt, die sich auffällig verhalten, die sich besonders profilieren wollen, besonders Anerkennung suchen. Gibt es Einzelgänger unter den Mitarbeitern, solche die den anderen komisch vorkommen, die ihren selbstlosen Einsatz hervorheben? Wird jemand gemobbt, macht jemand makabre Bemerkungen? Und was die zwei Leute betrifft, die durch verbotene Nahrungsmittel zu Tode gekommen sind: Vielleicht hat da doch jemand beobachtet, wie ein anderer Mitarbeiter oder ein Bewohner ein Brötchen vom Wagen genommen hat und dem Alten aus Mitleid zugesteckt hat. Zum Beispiel.
Und dann ist noch die Tochter der verunglückten Müller. Bei der fahren wir auch noch vorbei.“
„Danke für die Lehrstunde“, knurrte Schell.
„Schon klar, du weißt das alles selber.“ Strobe verkniff sich, ein weiteres „Aber“ hinzuzufügen. Er hatte dem Bub jetzt genug vorgehalten, was er sicher schon während des Studiums gehört hatte. Aber er musste halt ab und zu gesagt kriegen, dass er mit dem Job hier verheiratet war.
Doch Schell war in Gedanken schon wieder voll bei der Sache. „Mir will nicht in den Kopf, dass kein Mensch Bescheid weiß, wo sich diese Richter momentan aufhält“, sagte er. „Sie muss das doch irgendwem erzählt haben!“
„Am ehesten wohl ihrer besten Freundin. In ihrer Praxis wissen sie es nicht. Die Eltern eher auch nicht, die wohnen in Sachsen.“
„Und ihre beste Freundin ist Larissa Groß. Vielleicht erwischen wir sie heute zu Hause.“
Na also, der Junge hat verstanden, dass es noch einiges zu tun gibt,
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