Graue Schatten
Mit dem anonymen Anruf, den Todesfällen, dem seltsamen Gefühl, dass er von dem Geschehen in der Nacht, in der die Sausele mit einem Kissen erstickt worden war, mehr wusste, als sein Verstand wahrhaben wollte?
Er sah nochmals den dunklen Flur des ersten Stockes vor sich. Und das Gefühl, dass er etwas übersehen hatte oder verdrängte, war wieder da. Sehr intensiv sogar.
Kevin sah sich auf dem schwach dunkelgelb beleuchteten Flur von Station B. Er hatte gerade die Tür zu Frau Schmidts Zimmer von draußen geschlossen. Aber er blieb stehen, weil er etwas bemerkt hatte. Er schaute sich um, der Flur war bis zum Ende leer. Doch es war da. Einen Moment lang schien er es greifen zu können. Es war, als ob es aus dem tiefen Meer des Unterbewusstseins auftauchen wollte und sich schon kurz unter der Wasseroberfläche befand.
Doch gleich darauf war es wieder verschwunden.
Larissa hatte sich so auf das freie Wochenende gefreut, die ganze Woche über. Zwölf Tage Dienst hintereinander. Und was machte sie, als endlich der Samstag da war? Sie hatte nichts Besseres zu tun, als über den Hof zu laufen und ihre geliebte Arbeitsstelle aufzusuchen. Aber sie konnte nicht anders. Sie hatte unbedingt wissen müssen, was es Neues gab, was überhaupt los war, oder ob jemand etwas von Kevin wusste.
Sie hatte sich also beim Frühstück mit Bodo unterhalten. Und der war gleich mit der nächsten Horrormeldung gekommen. Bodo hatte ihr eröffnet, dass Frau Sausele nicht auf natürliche Weise gestorben war. Sie sei wahrscheinlich mit Medikamenten vergiftet worden und Kevin wurde verdächtigt. Unter anderem deshalb, weil aus dem Giftschrank eine Ampulle Diazepam verschwunden war. Die Kripo hatte ihn gestern danach gefragt. Er sagte auch, Stur habe darauf hingewiesen, dass das unbedingt unter dem Pflegepersonal bleiben solle.
Larissa war völlig verwirrt und benommen zurück in die Wohnung gegangen. Jetzt saß sie auf der Couch und grübelte. Schlimm genug, dass eine Bewohnerin vom Felsen gestürzt war. Dass sich ihre beste Freundin nicht meldete, war mehr als seltsam. Aber ein Mord, und ihr bester Freund als Verdächtiger verhaftet – das war einfach zu viel.
Am liebsten hätte sie ihre Koffer gepackt und wäre weit weg gefahren oder noch besser geflogen. Ihr kompletter bescheidener Freundeskreis war gerade dabei, sich auf eigenartige Weise in Luft aufzulösen. Betti, Kevin, Anna, Locke. Hier passierten beängstigende Dinge und keiner von ihnen war zu erreichen.
Allerdings war Abhauen auch keine Lösung. Morgen musste sie ohnehin ihre Eltern besuchen. Und vielleicht meldete sich ja Betti doch noch. Larissa hatte ihr erst heute Morgen die Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, dass Kevin von der Polizei abgeholt worden sei. Wenn der Grund für Bettis Schweigen wirklich Stress war, müsste es ja jetzt, am Wochenende, etwas besser aussehen. Meldete sie sich jedoch in den nächsten zwei Tagen nicht, dann wäre definitiv etwas faul!
Wenn sie aber schon nicht weg konnte, musste sie wenigstens etwas unternehmen! Kevin helfen! Dass er niemanden umgebracht hatte, daran gab es doch nun wirklich keinen Zweifel.
Ihr kam der Gedanke, einfach mal bei Locke vorbeizufahren. Sie musste sowieso noch in den Supermarkt. Nichts wie raus hier, dachte sie und sprang auf. Ihr kam plötzlich schon ihre Wohnung wie ein Gefängnis vor. Sie zog sich die dicke weiße Steppjacke über und flitzte in die Tiefgarage. Es war noch kälter geworden. Viel zu schnell fuhr sie die B27 zur Stadt hinunter. Dass sie nicht ins Schleudern kam, war pures Glück.
Am Kreisverkehr hinter der Eisenbahnunterführung nahm sie die erste Ausfahrt. Dann bog sie rechts ab. Gleich am Anfang der Dammstraße wohnte auf der linken Seite Kevin. Normalerweise. Rechts hatte Locke sonst seinen bunt bemalten, zwanzig Jahre alten Passat geparkt. Er war offensichtlich nicht da. Larissa wendete und fuhr wieder über den Kreisverkehr zum Supermarkt. Wie immer samstags war der Parkplatz voll. Sie musste erst zwei Reihen abfahren, bevor sie eine Lücke entdeckte.
Und da stand sie, Lockes Schrottkarre, ein paar Autos weiter geparkt. Larissa holte sich einen Einkaufswagen und eilte zum Eingang. Im Eingangsbereich schaute sie links zu den Kassen, um ihn auch nicht zu verpassen. Und tatsächlich: Er stand am Ende von einer der drei Schlangen. Er schien in eine Diskussion vertieft zu sein, mit einer Person, die Larissa nicht sehen konnte, weil andere Leute davor standen.
Sie überlegte, ob sie winken
Weitere Kostenlose Bücher