Graue Schatten
Schlussstrich. Die Beziehung war schon längst tot.“ Er hatte das Gefühl, dem Alten musste er in der Hinsicht die Wahrheit sagen, auch wenn ihn dessen Theorie scheinbar ein wenig entlastet hätte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, warum Betti ihn dermaßen reinreiten sollte.
„Kannte ihre Ex ihren neuen Liebhaber schon länger?“, fragte der Glatzkopf.
„Sie hat mich wohl ein paarmal mit ihm beschissen. Das habe ich aber erst letzten Montag erfahren. Larissa, also ihre beste Freundin, hat so was angedeutet.“
„Und am Sonntag hat Bettina Sie verlassen?“
„Korrekt.“
„Einfach so, Hals über Kopf?“
„Es hat sich wohl so ergeben. Wie gesagt, sie hat am Samstagabend mit dem Macker zusammen gefeiert, ist am Sonntagnachmittag kurz zu Hause aufgetaucht, wir haben uns gestritten. Und dann ist sie halt gleich zu ihm gezogen.“
„Worum ging es bei dem Streit?“
„Wirklich nichts Besonderes. Das Gleiche wie schon zigmal vorher. Sie hat mir vorgeworfen, dass ich zu viel mit meinen Freunden rumhänge, zu wenig Zeit für sie habe, im Haushalt nichts mache und so weiter. Ich habe dagegengehalten, dass ich nichts dafür kann, dass ich Geld verdienen muss, während sie Partys feiert. Eigentlich nur Blabla. Wir hatten einfach keine gemeinsamen Interessen mehr. Aber wieso fragen Sie meine Ex nicht einfach direkt?“
„Das würden wir gerne. Leider kennt niemand ihren neuen Freund und seine Adresse. Wir haben nur ihre Handynummer. Über die war sie bisher nicht zu erreichen.“
Schon seltsam, dachte Kevin. Larissa hatte über das gleiche Problem geklagt: Betti meldete sich nicht und war nicht zu erreichen.
Der Bubi kam wieder rein und stellte Kevin widerwillig einen dampfenden Pappbecher hin. Der Alte ließ Kevin einen Schluck trinken, dann fragte er: „Noch mal zu Sonntagnacht. Ist Ihnen da etwas aufgefallen? Oder haben Sie eine Idee, wer sich warum nachts in das Heim schleichen und Frau Sausele umbringen sollte?“
Wie auf Kommando sah Kevin wieder den dunklen Gang auf Station B vor sich. Aber das war auch alles. Er konnte sich an rein gar nichts erinnern.
„In einer halben Stunde ist der Termin beim Haftrichter. Sie müssen davon ausgehen, dass Sie wegen Verdunklungsgefahr in Untersuchungshaft bleiben werden. Es wird weitere Obduktionen und vielleicht Exhumierungen geben“, verkündete der Alte mit eher mitleidiger Miene und schaute Kevin an, als ob er noch auf etwas wartete, vielleicht auf die plötzliche Einsicht. Die Reue des Serienmörders.
Dann verließen die beiden Bullen den Raum. Ein Uniformierter kam herein, blieb an der Tür stehen und schaute Kevin dabei zu, wie er noch einen Schluck Kaffee schlürfte. Vermutlich hatte er die Order vom Alten bekommen, den Gefangenen noch austrinken zu lassen. Wenigstens das war ihm geblieben. Verdammt! Ich hätte ein freies Wochenende, fluchte Kevin innerlich. Was läuft hier für ein beknacktes Spiel? Eine Verschwörung, könnte man meinen! Was, wenn Derrick recht hat und doch Betti und ihr geheimnisvoller Neuer, den keiner kennt, hinter dem Anruf stecken? Und der Rest? Die Todesfälle? Sollte da jemand bewusst Dinge manipuliert haben? Aber wer? Und was für Dinge?
Plötzlich wurde ihm zum ersten Mal bewusst, was das bedeutete: Während er in jener Nacht schlief oder ahnungslos über den Flur schlappte, wurde ein paar Meter weiter hinter einer Zimmerwand die Sausele mit einem Kissen erstickt!
Das vertraute Bild stand wieder vor ihm wie eine Filmleinwand: der Flur! Er war gerade aus dem Zimmer der Schmidt gekommen und stand im dunklen Gang. Und da war es!
Aber was? Zum Kuckuck! Wenn er sich doch daran erinnern könnte, was es war, das er nicht greifen konnte. Dieser schwarze Fleck in seiner Erinnerung machte ihm mehr und mehr Angst.
„Was meintest du vorhin, als du Linde fragtest, was ihm Sonntagnacht aufgefallen sei, und ob er eine Idee habe, wer sich nachts in das Heim schleichen sollte?“, wollte Schell wissen, als sie wieder auf dem Weg in ihr Büro waren.
„Ich wollte, dass er mir sagt, was ihm Sonntagnacht aufgefallen ist, und dass er mir verrät, ob er eine Idee hat, wer sich nachts ins Heim schleichen sollte. Was sonst?“
Schell ließ sich nicht von seinem Chef provozieren. „Hört sich an, als ob du seine Geschichten glaubst.“
Strobe schwieg.
„Du meinst also, er ist nicht der Mörder“, stellte Schell fest.
„Ach, vergiss es.“ Strobe hatte keine Lust auf eine Diskussion, wenn er keine Argumente hatte. Er wählte
Weitere Kostenlose Bücher