Graue Schatten
sich der Gegenverkehr wie eine Lichterkette aneinander. Larissa wollte aber auf keinen Fall schneller fahren. Ihr Schutzengel flüsterte ihr zu, dass der Verrückte hinter ihr dann noch immer an ihrer Stoßstange klebte, was die ganze Situation noch gefährlicher machen würde. Kurz entschlossen setzte sie rechts den Blinker und bog im letzten Moment, eine Abfahrt früher als geplant, in Richtung Stadtmitte ab, um ihn loszuwerden.
Betti drehte sich wieder um.
„Der kommt uns hinterher!“, rief sie unvermittelt, was Larissa mehr erschreckte, als die Tatsache, dass ihnen ein offensichtlich Verrückter folgte. Quasi nachts und in eine völlig verlassenen Straße, wie ihr nun auffiel. Offenbar war außer ihr und ihm niemand hier abgebogen.
Gleich würde sie auch noch anhalten müssen. Weiter vorn an einer roten Ampel. Sie ging vom Gas, sah in den Rückspiegel und hoffte, die Ampel würde umschalten und der Irre würde auf der zweiten Spur überholen.
Plötzlich heulte hinter ihnen ein Motor auf, gleichzeitig wurde Larissa von Scheinwerfern im linken Seitenspiegel geblendet. Als sie sich reflexartig umdrehte, war das Auto des Irren bereits links neben ihr. Er war so dicht neben sie gefahren, dass sich die Außenspiegel fast berührten und sie nicht erkennen konnte, was für ein Auto es war. Aber jetzt auf gleicher Höhe, starrte der Fahrer herüber.
„Das ist Locke!“, rief Betti: „Ist der jetzt total durchgedreht?“
„Definitiv!“ Larissa spürte erst jetzt, wie ihr Herz klopfte. Im gleichen Moment gab Locke schon wieder Gas und dröhnte mit quietschenden Reifen davon. Einen Moment schaute Larissa dem alten Passat mit den selbstgemalten Hanfblättern auf der Heckklappe hinterher, bevor sie begriff, dass die Ampel auf Grün geschaltet hatte.
„Und bekifft ist er“, sprach sie, während sie weiterfuhr. „Der hat mich vorhin an der Tankstelle schon so komisch angemacht. Ich vermute, er ist bloß deshalb jetzt so schnell verschwunden, weil er gesehen hat, dass ich nicht alleine bin!“
Obwohl Locke weg war, hatte auch Larissa plötzlich das Bedürfnis, sich Bettis geheimnisvolle Geschichte doch lieber in einem belebten Café anzuhören.
Eine gute Stunde später war das dann endlich geschehen, doch Larissa war genauso durcheinander wie vorher. Sie wusste nun, was Betti Unglaubliches entdeckt hatte, nicht aber, was sie davon halten sollte.
Während ihre Freundin gerade „für kleine Mädchen“ war, rührte sie in ihrem Cappuccino und versuchte, neben ihrem Italia-Becher auch noch die vergangene Stunde zu verdauen: Betti hatte, gleich nachdem sie bestellt hatten, einiges von Locke erzählt. Und das warf nun doch ein etwas anderes Licht auf Kevins besten Freund. Aber, dass Locke Betti angebaggert hatte, erklärte nicht sein Verhalten Larissa gegenüber. Und auch nicht, was Anna für ein Problem mit ihm hatte. Darauf konnte auch Betti sich keinen Reim machen.
Was Betti dann berichtet hatte, ließ aber den Zwischenfall mit Locke schnell verblassen. Nachdem sich Betti noch über ihre Freundin lustig gemacht hatte, weil die so langweilig war und schon wieder den gleichen Eisbecher bestellte, hatte Larissa endlich die Story zu hören bekommen, die der Grund dafür gewesen sein sollte, dass Betti am Sonntagabend nahezu fluchtartig die gemeinsame Wohnung von ihr und Kevin verlassen hatte und bei Andrej eingezogen war:
Als Betti am Sonntagmittag von ihrem One-Night-Stand, offiziell natürlich von Larissa, nach Hause gekommen war, hatte es also einen Streit gegeben. Der spielte sich nicht anders als frühere Auseinandersetzungen ab und endete damit, dass sich Kevin zu Locke verkrümelte. Betti, nun alleine in der Wohnung, bekam plötzlich Gewissensbisse. Sie wischte im Flur den Fußboden und wollte dann in Kevins kleinem Arbeitszimmer weitermachen. Der Boden dort war aber wieder einmal dermaßen mit Zetteln und Bücherstapeln zugemüllt, dass sie die Lust verlor. Sie setzte sich an Kevins Schreibtisch und grübelte. Dabei sah sie ein Buch ohne Titel, das so dalag, als sei es gerade erst dort hingelegt worden. Neugierig schlug sie es auf.
Es stellte sich als ein Notizbuch heraus, in welches Kevin anscheinend Krankenbeobachtungen eintrug, die er bei Heimbewohnern gemacht hatte. Sie blätterte ein bisschen darin herum. Je mehr sie las, umso merkwürdiger kamen ihr diese Eintragungen vor. Zwischen den Beobachtungen waren Tabellen mit Medikamenten und deren Dosierung eingezeichnet. Alle Bewohner, die Kevin
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