Graue Schatten
beobachtete, waren Patienten von Dr. Hansen, also von Bettis Chef. Das musste nichts zu bedeuten haben, weil die meisten auf Station B Hansen als Hausarzt hatten. Aber dann kam etwas, das Betti stutzig machte: Jeder Bewohner, jede Patientin, hatte eine eigene Tabelle, in die Kevin für diverse Medikamente jeweils zuerst Dr. Hansens und dann seine eigene Dosierung eingetragen hatte! Betti fiel auf, dass die Dosis, die Kevin „verordnet“ hatte, immer höher war, als die von Hansen. Manchmal war sie extrem hoch! Und das bei stärksten Beruhigungs- und Schmerzmitteln! Ein bisschen kenne sie sich ja auch aus, sagte Betti.
Jedenfalls las sie sich daraufhin die Beobachtungen genauer durch. Kevin beschrieb dort eindeutig, wie die Patienten auf die höhere Dosierung reagierten! Behauptete zumindest Betti. Deshalb war sie zu dem Schluss gekommen, dass Kevin den Leuten, immer wenn er Dienst hatte, heimlich mehr von dem Zeug verabreichte, als er eigentlich durfte.
Aber es kam noch heftiger. Betti entdeckte die Namen der Patienten, die letzte und vorletzte Woche, während Kevins Nachtschicht verstorben waren: Gisela Leutle und Lothar Fritz. Natürlich waren auch bei den beiden die Dosierungen in der Spalte mit Kevins Namen höher als von Hansen angeordnet. Betti behauptete, ihr Herz habe gerast, als sie das entdeckt habe. Doch als sie die Aufzeichnungen über Frau Sausele gelesen habe, habe sie fast der Schlag getroffen. Zwar lebte sie zu dem Zeitpunkt noch ein paar Stunden, und dass auch sie sterben würde, erfuhr Betti erst am Montag in der Praxis. Aber was Betti da offenbar lesen musste, war wirklich zu furchtbar, um wahr zu sein. Es bewies sozusagen, dass Kevin Frau Sausele auf dem Gewissen hatte: Angeblich hatte er notiert, wie viel Diazepam und Morphium er ihr gleichzeitig geben musste, damit sie eine Atemdepression bekommen und sterben würde! Schließlich hatte er sogar noch geschrieben, dass Dr. Hansen sowieso Herzversagen feststellen würde.
Kevin hatte also den Patienten zu hohe Dosen Beruhigungs- und Schmerzmittel gegeben. Und das hatte vermutlich nicht bloß bei Frau Sausele zum Tod geführt! Betti sei so geschockt gewesen, dass sie sogleich Andrej angerufen und ihm mitgeteilt habe, dass sie es sich sein Angebot betreffend überlegt hatte: Sie wollte bei ihm einziehen – und zwar sofort. Von ihrer Entdeckung hatte sie ihm aber angeblich nichts erzählt.
Larissa weigerte sich zu glauben, dass Kevin zu so etwas fähig war. Vielleicht hatte ihre Freundin das alles falsch verstanden? Betti behauptete aber, dass es da nichts falsch zu verstehen gebe. Diese Aufzeichnungen seien ganz eindeutig.
Direkt nach Bettis Bericht über Lockes Anmache hatte Larissa gehofft, gemeinsam mit Betti überlegen zu können, wie sie Kevin helfen könnten. Vielleicht wollte Locke Kevin eins auswischen, und man könnte der Polizei einen Tipp geben. Schließlich stimmte mit dem Typen etwas nicht. Sogar die Kripo hatte sich nach ihm erkundigt. Womöglich hatte er das Beruhigungsmittel geklaut. Aber jetzt war Larissa klar, dass sie nun, was das betraf, nicht mehr mit ihrer Freundin rechnen konnte. Bettis Geschichte über ihre fragwürdige Entdeckung hatte alles umgeworfen. Für sie war Kevin definitiv schuld am Tod von mindestens drei Heimbewohnern!
Es sah ja auch tatsächlich ganz danach aus.
Larissa überlegte, ob Betti sich das Ganze oder wenigstens Teile der Geschichte ausgedacht haben könnte. Aber sie verwarf den Gedanken wieder. Betti war ziemlich aufgewühlt gewesen, vorhin, als sie das alles erzählt hatte. Und warum sollte sie sich so etwas ausdenken? Nur um zu rechtfertigen, dass sie so plötzlich ausgezogen war? Wohl kaum.
Trotzdem – irgendwas stimmte nicht.
Als Betti nun an den Tisch zurückkam und nichts sagte, stattdessen mit dem Trinkröhrchen am Cocktail saugte, den sie sich noch bestellt hatte, und sie dabei reumütig ansah, fiel es Larissa auf einmal wie Schuppen von den Augen. Dass sie jetzt erst drauf kam, lag wahrscheinlich daran, dass sie das Betti nicht zutraute. „Hast du das alles der Polizei erzählt?“, fragte Larissa nun.
Betti verschluckte sich fast. „Bist du verrückt?“, entrüstete sie sich.
„Aber wenn du davon überzeugt bist, dass er so was fertigbringt? Haben sie dich nicht verhört?“
„Ich würde ihn doch nie so in die Pfanne hauen! Die Bullen haben bei mir bloß auf die Mailbox gequatscht. Ich hab mich noch nicht mal zurückgemeldet!“
„Und der anonyme Anruf? Das warst du auch
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