Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Falte wie aus Granit gemeißelt. »Ich hoffe nur, meine alte Betsy springt noch an. Sie hat sich seit zwei Wochen nicht mehr vom Fleck gerührt.«
XI
Betsy war hustend und stotternd zum Leben erwacht. Bis zuletzt war Murphy sicher gewesen, dass sie sich doch noch alle in den Pick-up quetschen mussten. Als er jedoch den Motor startete, waren die gleichen quietschenden und pfeifenden Geräusche erklungen wie immer, wenn er die alte Mühle angeworfen hatte.
»Du wirst uns noch alle überleben«, murmelte er, als sie den Weg hinauf zur Straße fuhren. Am Anfang musste er über seine eigene Bemerkung lächeln. Doch jetzt, als er auf der holprigen Straße hinter Wulf herfuhr, machten ihm die Worte Angst.
Demi saß neben ihm, in eine Wolldecke gehüllt. Ihr Kopf lehnte gegen die Nackenstütze, die Augen waren geschlossen. Murphy betrachtete das eingefallene, graue Gesicht des Mädchens. Es war unmöglich einzuschätzen, ob sie noch ein Kind oder bereits eine alte Frau war.
Der Tag wirkte wie ein schlechter Film auf ihn. Die Landschaft, in der er sein halbes Leben verbracht hatte, erschien ihm fremd und bedrohlich, so als würde er sich durch einen Traum bewegen, in dem sich alles, was er einst liebte, in lauernde Bestien verwandelt hatte. Das Land war ebenso grau wie der Himmel. Es gab keinen Übergang mehr. Und durch diese bleiche Welt schlängelte sich die Straße wie der verkrüppelte Körper einer Schlange.
Wie oft Murphy diesen Weg zu den Millers oder zu seinem alten Freund Harv gefahren war, konnte er nicht mehr sagen. Als Audrey noch bei ihm gewesen war, ließen sie immer den Oldie-Sender laufen und sangen lautstark und falsch mit. Besonders Elvis hatte es Audrey angetan – warum, wollte Murphy nie verstehen. Er mochte eher Neil Diamond und seine ruhige, einfühlsame Stimme. Dennoch trällerte er stets am lautesten, wenn Elvis im Radio gelaufen war.
Als Audrey weg war, wurde das Radio nicht mehr eingeschaltet. Wenn er sich einsam gefühlt hatte und auf dem Weg zu Harvey und seiner Frau Sarah war, wollte Murphy sich an die Zeit mit ihr erinnern und ihre Stimme im Wagen hören. Dafür brauchte er kein Radio. Manchmal summte er dann leise die Melodien von Elvis und fühlte sich noch einsamer als zuvor.
Als er jetzt durch das tote Land fuhr, das Heck von Harveys Pick-up keine zwanzig Meter vor ihm, Steine gegen den Unterboden prasselten und die Kabine im Rhythmus des Motors vibrierte, war Audrey verschwunden. So sehr er sich auch anstrengte, aber Demi und er waren alleine im Wagen.
Audrey war ebenso verschwunden wie der Rest der Welt. So wie das Haus, in dem sie ihr Leben verbracht hatten. Ein Gedanke, der sich wie ein finsterer Dieb bisher in den Schatten verborgen hatte, trat plötzlich in den Vordergrund und brachte Murphys Verstand zum rasen: Er würde sein Haus nie wieder sehen, nie wieder im Laden stehen und unsinniges Spielzeug oder Snacks an Reisende verkaufen.
Er fragte sich, ob seine Erinnerungen in der kleinen Hütte unter den Birken zurückgeblieben waren. Er selbst hatte zu Daryll gesagt, dass es irgendwann einmal eine Zeit geben wird, in der sie trauern konnten. Aber wie sollte er das tun, wenn es in ihm nichts mehr gab, um das er weinen konnte? War er wirklich so töricht gewesen, seinen wertvollsten Schatz in der Dunkelheit des Hauses zu vergessen?
Die Gedanken wirbelten wie ein Sturm durch seinen Kopf, auch wenn er nach außen hin völlig ruhig erschien. Das war schon immer eine seiner Stärken gewesen. Niemand sah ihm an, was ihn bewegte. Audrey hatte diese Stärke stets als Schwäche bezeichnet. Aber sie war nicht hier, um ihn zu kritisieren, ihn zu ermahnen, in den Arm zu nehmen oder lautstark Elvis mitzusingen. Audrey war in dem leeren Haus zurückgeblieben. Die Erinnerung an sie würde eines Tages genau so zerfallen wie das morsche Holz der Hütte.
Murphy schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad, so dass Demi im Schlaf zusammenzuckte und leise vor sich hin murmelte.
»Vergib mir, Audrey«, flüsterte Murphy leise. »Vielleicht komme ich eines Tages zurück und hole dich.« Sein verschleierter Blick streifte die fahle Landschaft. »Oder du kommst mich holen.«
Der Gedanke gefiel ihm.
Auf einer Hügelkuppe erschienen die Pfosten, die den Weg zu Harveys Haus markierten. Sie waren geschwärzt und ragten wie faule Zähne aus der Erde. Daneben stand der alte, verrostete Briefkasten seines Kumpels mit dem Namen eines Toten.
Murphy spürte, wie sich etwas Kaltes um sein Herz legte. Er warf Demi einen
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