Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
sich große Sorgen um Demi, auch wenn es ihn mit Zuversicht erfüllte, dass ihre tiefen Wunden zu heilen begannen. Die Ränder, die ihn zuvor noch an schwarze Krater erinnerten, hatten einen blassen rosa Farbton angenommen.
Nachdem sie ihre Vorräte gegessen und mit Wasser hinuntergespült hatten, legten sie sich schlafen, indem sie sich mit Stroh zudeckten. Der Gestank war widerlich, da das Stroh feucht war. Doch alles war besser, als im Wagen zu schlafen und den Angriffen der Kreaturen schutzlos ausgeliefert zu sein.
Wulf und Murphy hielten abwechselnd Wache, obwohl sich Wulf sicher war, dass sich keine der Bestien in die Nähe der schwelenden Ruine wagen würde. Daryll bot sich an, die dritte Schicht zu übernehmen, doch Wulf bestand darauf, dass die Kinder ihren Schlaf notwendiger brauchten als ›die beiden alten Narren‹, wie er sich ausdrückte. Dennoch kam Daryll in der Nacht zu ihm gekrochen, als er am Rand des Heubodens gegen die Bretterwand der Scheune gelehnt saß und in das trübe Mondlicht starrte, das durch einige Lücken im Dach fiel.
Daryll setzte sich schweigend neben ihn. Wulf spielte mit dem Gedanken, ihn wieder schlafen zu schicken, doch dann nickte er dem Jungen aufmunternd zu. Er sah, dass Daryll seine Pistole bei sich trug.
Eine Weile saßen sie schweigend da. Zwei Fremde in einer kalt gewordenen Welt. Daryll spielte mit einigen Halmen, die er zu einem kleinen Seil zusammenband. Dann blickte er zu Wulf, der mit erschöpften Augen ins Dunkel starrte. »Was ich da heute Mittag über Gott gesagt habe …« Seine Stimme klang schwach, wie die eines kleinen, ängstlichen Jungen.
»Mach dir nicht zu viele Gedanken«, unterbrach ihn Wulf, legte ihm den Arm um die Schulter und zog ihn zu sich heran. »Ich kann dir deine Worte nicht verübeln. Ich weiß selbst nicht mehr, ob ich noch glauben soll, oder nicht.«
Daryll spielte mit den geflochtenen Halmen und ließ sie durch die Finger gleiten. »Meine Eltern waren sehr religiös. Wir sind jeden Sonntag zur Kirche gegangen, und sie halfen ehrenamtlich an sämtlichen Kirchenfesten mit. Ich wurde mit dem Glauben an Gott erzogen.«
Wulf sah dem Jungen eine Zeit lang schweigend zu. »Hast du denn an Gott geglaubt? Oder hast du es nur deinen Eltern zuliebe glauben wollen ?«
Daryll schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe wirklich an ihn geglaubt. Nicht diesen ganzen Mist von wegen Wunder und Auferstehung. Aber ich war mir sicher, dass es da jemanden gab, der über uns alle wacht und uns beschützt. Jemand, der all das erschaffen hat.«
Er betrachtete das Stroh in seinen Händen. Dann warf er es in die Scheune hinunter.
»Und jetzt?«
Daryll zuckte mit den Schultern. Es dauerte lange, bis er antwortete: »Als ich in Devon war, habe ich viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Ich fragte mich, wie Gott das alles zulassen konnte. Ich fragte ihn jeden Abend, wo er sei und warum er nichts dagegen unternehme. Als ich dann Mary Jane fand, wusste ich, dass er noch bei mir war. Für mich war Mary ein Zeichen gewesen. Ein Zeichen, dass er mir zugehört hatte.« Daryll senkte den Blick. »Als sie dann weg war, versuchte ich es zu verstehen. Aber ich konnte es nicht. Ich fragte Gott jeden verdammten Tag, warum er Mary hatte krank werden lassen und warum ich sie nicht finden konnte. Sie war einfach weg. Ich wollte von ihm wissen, was er damit bezweckte. Was sie ihm je getan hatte. Ich war so wütend gewesen; auf Gott, auf den Schmerz, auf die Welt. Selbst auf Mary Jane war ich wütend gewesen.«
Wulf vermied es, den Jungen anzusehen, denn neben ihm saß Mikey. »Und? Hat Gott dir je geantwortet?«
Daryll schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Er hielt den Kopf tief gesenkt. »Nein. Das hat mich noch wütender gemacht. Weil er es nicht für nötig befand, mit mir zu reden. Und weil ich nicht mehr wusste, an was ich noch glauben sollte. In der Kirche haben sie immer gesagt, in der größten Not könne man sich auf Gottes Beistand verlassen. Man würde von der Geburt bis zum Tod unter dem Schutz Gottes stehen. Selbst meine Mutter hat mir das oft gesagt, wenn ich in der Nacht Angst hatte. Und jetzt?« Er blickte zu Wulf auf, der gedankenverloren ins Dunkel starrte. »Jetzt tut Gott alles, damit ich nicht mehr an ihn glaube.«
Wulf betrachtete Darylls Haar, in dem kleine Strohstücke steckten. Er war wie Mikey. Daryll war Mikey. Doch Wulf konnte sich nicht daran erinnern, jemals mit seinem Sohn über Gott gesprochen zu haben. Heute würden sie es mit
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