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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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es so: wir haben überlebt. Ich habe zwar meine Familie verloren, aber ich habe euch gefunden. Wir sind nicht mehr alleine in dieser Welt. Und darin sehe ich unsere Chance. Gott hat mich auf meiner Reise nach Devon geführt, und dich hat er zu Murphys Haus gebracht. Verstehst du? Gott hat sich der wenigen Menschen, die den Wahnsinn überlebt haben, angenommen und ihre Worte erhört. Deine Worte in der Schule und meine, die ich ihm in Mikeys Kinderzimmer entgegengebrüllt habe. Er hat uns zusammengeführt und uns eine neue Chance gegeben. Und es liegt jetzt an uns, diese Chance zu nutzen und unseren Glauben wiederzufinden, so schwer das im Moment auch erscheinen mag.«
Sie schwiegen eine lange Zeit. Wulf dachte an die Tage, in denen er sich in seinem Haus versteckt gehalten hatte. Er dachte an den Morgen, an dem er aufgewacht war und Ellen tot neben ihm im Bett lag. Er sah Mikey, der sich in seinem Schlafanzug vor der Tür seines Zimmers krümmte, das kleine Gesicht zu einer fragenden Maske der Angst verzerrt. Er wusste nicht, ob er von seinen eigenen Worten überzeugt war; ob er jemals wieder den Glauben an ein Wesen aufbringen konnte, das ihm all das angetan hatte.
Wulf hatte vom Fenster aus gesehen, was in der Nacht mit all den Toten geschah, die auf der Straße und in ihren Gärten lagen. Er war dem Wahnsinn nahe gewesen und spürte heute noch den kalten Druck des Revolvers an seiner Schläfe. Vielleicht würde er eines Tages wieder glauben können. Eine andere Art von Glauben. Aber im Moment war er noch nicht so weit. Seine Worte sollten zur Beruhigung eines Jungen beitragen, der ihn in jeder Sekunde an Mikey erinnerte. Er sagte sie nicht aus innerster Überzeugung.
»Warum hat Mikey dich Wulf genannt?«
Darylls Worte rissen ihn aus seinen Gedanken, als hätte der Junge ihn aus einem bizarren, gestaltlosen Traum gerissen. Die grauen Bilder der Tage in seinem Haus in Deep River verblassten.
»Es gab einen Comic, den Mikey gerne las. Darin ging es um einen Indianer, der sich Wulf nannte.«
Es schnürte ihm die Kehle zu, als Mikey erneut wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auftauchte, auf seinem Bett liegend, während im Hintergrund ›Black Stone Cherry‹ aus der Musikanlage dröhnte.
»Dieser Wulf war ein junger Krieger und Häuptling eines kleinen Stammes, als Amerika noch den Ureinwohnern gehörte. Immer wenn für sein Volk Gefahr drohte, verwandelte er sich in einen Wolf und beschützte dadurch seine Familie und den Stamm vor Raubtieren und später auch vor dem weißen Mann, als dieser in Schiffen über den Ozean kam.« Wulf stieß ein bitteres Lachen aus, das Daryll sehr an ein Weinen erinnerte. »Mikey sagte mir einmal, dass ich mit diesem Wulf sehr viel gemeinsam hätte. Ich sei genauso groß wie der Indianer, genauso stark und wäre immer für ihn und seine Mutter da, wenn es darauf ankäme.« Er zuckte mit den Schultern. Ein trostloses Lächeln zog sich um seinen Mund. »Ich weiß nicht, ob das stimmte. Aber es hat mit gefallen, dass mich Mikey seither immer Wulf nannte.«
Daryll nickte und versuchte sich den Comic-Helden von Wulfs Sohn vorzustellen. Tatsächlich sah er in seinen Gedanken ein wenig wie dieser traurige, müde Mann mit den schmutzigen, zerzausten Haaren aus, der neben ihm im Stroh gegen die roh gezimmerte Bretterwand der Scheune lehnte und gedankenverloren ins Leere starrte. Er wusste, dass Wulf in diesem Augenblick nicht das Halbdunkel der Scheune vor sich sah.
»Wie ist dein richtiger Name?«
Wulf sah Daryll lange an. Dann lachte er wie ein Mann, der seine schönsten Erinnerungen gerade wieder in der goldenen Schatulle in seinem Innern begraben hatte.
»Jim.«
Daryll stand auf, steckte die Magnum in den Bund seiner Hose und klopfte sich das Stroh von den Beinen. »Gute Nacht, Jim. Du wärst ein guter Indianer gewesen.«
»Gute Nacht, Daryll.«
Wulf sah dem Jungen nach, der wie eine Erinnerung im Dunkeln verschwand. Stroh raschelte, Demi murmelte etwas. Dann wurde es still.
»Vielleicht sind wir alle ein bisschen wie Wulf«, flüsterte er zu sich selbst. Dann kehrte er zu Mikey zurück.
VII
Der Tag war grau und verregnet. Staub tanzte in den schmalen Lichtkegeln, die durch das Dach in die Scheune fielen, und verlieh dem großen Raum etwas Lebendiges.
Während sich Murphy um ein angemessenes Frühstück, bestehend aus Dosenfleisch, eingelegten Pfirsichen und trockenem Gebäck, kümmerte, untersuchte Wulf Demis Wunden. Die Salben und das Desinfektionsmittel, die er in dem Laden in Kagan´s

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