Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Wulf schüttelte kaum merklich den Kopf und so verschwiegen sie den anderen die Spuren ihrer nächtlichen Besucher. Gehört hatte sie keiner, was Wulfs Bedenken in Panik zu steigern drohte. Doch äußerlich ließ er sich nichts anmerken.
Während er die Gegend absicherte, belud Murphy zusammen mit Daryll die Wagen. Demi saß bereits im Ford und hatte ihre Wolldecke um ihren hageren Körper geschlungen. Auf ihrem Schoß lag eines der Bücher, die ihr Martha mitgegeben hatte. Einer der letzten Schätze in dieser Welt.
Als der Tag allmählich sein übliches Grau annahm und der Horizont aus weißer Asche zu bestehen schien, fuhr die kleine Gruppe wieder zum Highway zurück. Stonington war nur eine Stunde entfernt und doch spürte Wulf mit jedem Meter, den sie sich der Militärbasis näherten, wie er sich an jeden anderen Ort der Welt wünschte. Die Worte des Fremden in dem kleinen Dorf und ein Alptraum von letzter Nacht, in dem dessen kleine Tochter eine große Rolle gespielt hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf.
XI
Als sie die Stadt am Mittag erreichten, hatte der Regen endgültig nachgelassen. Vom Meer wehten Nebelschwaden aufs Land und es schien, als versuchten sie die verlassenen Häuser in die Fluten zu ziehen.
Der Anblick des Ozeans rief in Wulf Erinnerungen an seine Kindheit wach, als er mit seinen Eltern so manchen Sommer an der Atlantikküste verbringen durfte. Damals bedeutete das Meer eine stille Erhabenheit für ihn, die er bei den Menschen vermisste. Er war den Wellen und dem fernen, im Dunst liegenden Horizont stets mit der angemessenen Ehrfurcht begegnet, da ihm das Wasser die wahre Größe seiner kleinen Person schonungslos offenbart hatte. In einer Welt wie dieser, die sich ihrer Parasiten – auch Menschen bezeichnet – entledigt hatte, wirkte der Anblick des Meeres noch größer und unnahbarer auf ihn.
Die Stille des Landes schien von den fernen Wellen und Wolken auszugehen. Die Schrecknisse der Welt verblassten zur Bedeutungslosigkeit. Das Meer vermittelte den Eindruck von unabdingbarem Frieden und einer Präsenz, die weit über jeder Vorstellungskraft der letzten Menschen lag.
Wulf öffnete das Fenster einen kleinen Spalt. Die Kälte, die ins Wageninnere strömte, wirkte erfrischend und trug den klaren Duft von Ferne mit sich. Irgendwo da draußen, jenseits des Horizontes, war die Welt vielleicht noch in Ordnung und dort lebten Menschen, ohne die geringste Ahnung, welche Dunkelheit über diesem Teil der Erde lag. Der Gedanke gefiel Wulf – so absurd er auch war – und er hielt ihn fest, während er den Geschmack von Salz in seinem Mund spürte.
Die Militärbasis, die sich ›Boscom Field‹ nannte, lag außerhalb der Stadt, direkt an der Küste, und konnte durch eine eigens für die Basis errichtete Umgehungsstraße erreicht werden. Sie brauchten sich also den Gefahren, die in den verlassenen Gebäuden und leeren Straßen von Stonington lauern konnten, nicht zu stellen.
Die Straße zum Stützpunkt war ein breites, ebenmäßiges Band ohne Schlaglöcher. Ein weiterer Vorteil, wenn das Hauptaugenmerk einer Regierung auf Militär und Verteidigung gelegt wurde. Am Straßenrand stand ein Humvee, der in die Leitplanke gekracht war. Die Türen standen offen, der Wagen war leer. Auf der Straße lag ein Rucksack. Sonst kündete nichts von Leben.
Das Areal der Basis erstreckte sich über einen Großteil der Küste, wo es an einen eigenen Hafen mit Verladekränen angeschlossen war. Landeinwärts reichte ›Boscom Field‹ bis ungefähr eine Meile an die Stadt heran.
Wulf konnte auf die Entfernung hin einige niedrige Baracken sowie einen Flugzeughangar erkennen. In der Mitte des Geländes ragte ein quadratischer Turm in den Himmel, dessen oberstes Stockwerk komplett verglast war. Scheinbar fungierte das Gebäude gleichzeitig als Tower für startende und landende Militärmaschinen, wie auch als Wachturm, denn die Sicht musste bis weit hinter Stonington ins offene Land reichen. Das farblose Tageslicht spiegelte sich in den Scheiben des Turms, so dass es auf Wulf wirkte, als blinzele das Gebäude ihm verführerisch zu. Solide wirkende Betonwände umzäunten das Gelände, welche die Sicht auf den Innenhof verwehrten.
Als Wulf einen sanften Hügel hinab auf die Einfahrt zur Basis zufuhr, spürte er zum ersten Mal, wie die Resignation in ihm die Oberhand gewann. Einer der Schlagbäume stand offen, ein zweiter lag zerbrochen auf der Straße, als wäre ein Wagen ungebremst hindurchgefahren. Das kleine
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