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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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nach dem er sich jetzt jedoch sehnte. Doch an diesem Morgen war es windstill. Die weißen und roten Fahnen hingen wie tote Haut an ihren Masten. Wulf bemerkte, dass die gläsernen Eingangstüren durch braune Holzplatten ersetzt worden waren.
»Unser Vorratslager«, sagte Joshua mit einem breiten Grinsen und deutete mit dem Kinn in Richtung des Supermarktes. »Im Moment machen wir uns noch keine Sorgen, was Vorräte angeht. Was später einmal sein wird …«
Er wirkte plötzlich ernst, sprach jedoch nicht weiter.
Wulf drehte sich einmal um sich selbst und betrachtete dabei die schmucken weißen Bungalows, welche die Straße säumten. Dazwischen standen Nachbildungen von Herrschaftshäusern, mit von Säulen getragenen Eingängen und großen Rasenflächen. Alle Grundstücke wurden durch niedrige Hecken voneinander getrennt. Trauerweiden und Birken spendeten verträumte Schatten.
›Es könnte Sonntag sein‹, dachte Wulf. In der Auffahrt einer Garage wäscht jemand sein Auto, während aus dem Radio ein Rocksong dröhnt. Kinder rasen in wilden Schlangenlinien auf ihren Fahrrädern über die Straße, lachen und schreien und verschwinden schließlich hinter einem der Bungalows. Der Duft gebratenen Fleisches liegt in der Luft. Irgendwo hört er das Plantschen eines Pools und spitze Schreie von Mädchen. Hunde bellen.
Genauso hatte es in Deep River ausgesehen, schoss es ihm schmerzhaft durch den Kopf. Im Sommer, wenn er selbst mit Ellen und Mikey im Garten war und den großen Foreman-Grill angeworfen hatte, um Burger und Würste zu grillen. Damals, in einem anderen Leben. Wulf blickte die Straße zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Gärten waren leer und still. Keine Musik. Kein würziger Bratenduft. Jenseits der letzten Häuser konnte er das hölzerne Tor erkennen, durch das sie am Tag zuvor gekommen waren und das die Stadt vom Niemandsland trennte. Dahinter schien sich der Tag wie eine düstere Wolkenwand zu türmen.
Der Anblick zerstörte die idyllischen Gedanken, die ihn an die alte Welt erinnert hatten und schmetterte ihn mit brachialer Gewalt auf den schwarzen, staubigen Boden der Wirklichkeit zurück. ›Wir sind Gefangene‹, dachte er voller Verbitterung und betrachtete mit wachsender Furcht die Gegensätze, die ihm wie ein grauenvolles Schauspiel offenbart wurden: Die sauberen, hellen Bungalows mit ihren Gärten und Bäumen, die ihm das trügerische Gefühl von Sicherheit und Vollkommenheit zu vermitteln versuchten – und jenseits des Tores der stille, aschebedeckte Vorhof der Hölle, der lauerte und wartete.
Ein Geräusch ließ Wulf auf dem Absatz herumfahren. Instinktiv ging er in Kampfstellung, als trüge er seine Pumpgun mit sich. Doch das Gewehr lag in ihrem Zimmer, nachdem Joshua ihnen versichert hatte, dass sie in ihrer kleinen Festung zumindest am Tage keine Waffen brauchten.
An einem der Bungalows hatte sich die Haustür geöffnet und ein Mann trat auf die Veranda. Wulf schätzte ihn auf Ende vierzig. Er trug verwaschene Jeans und ein kariertes Baumfällerhemd. In seiner Hand trug er eine weiße Plastiktüte.
Die Szene wirkte banal und natürlich. Der Mann hätte sein Nachbar sein können, der den Müll nach draußen brachte. Ebenso gut könnte er eine trügerische Einbildung sein.
Wulf spürte, wie sich beim Anblick des Mannes sein Magen verkrampfte. Er stand nur wenige Meter von ihnen entfernt auf den Stufen der Veranda und doch schienen Gräben der Ewigkeit zwischen ihnen zu liegen. Es kam ihm wie einer dieser unscharfen Filme vor, wie man sie früher im Kino sah. Alles wirkte so unwirklich und unerreichbar fern.
»Guten Morgen, Dan«, grüßte Joshua den Mann und winkte ihm zu.
Dan hob seinerseits den freien Arm und tippte sich an einen nicht vorhandenen Hut. »Hallo, Joshua. Wie ich sehe, zeigen Sie unseren neuen Mitbürgern unser kleines Paradies.«
Sie traten an den weiß gestrichenen Zaun des Gartens. Stevenson stellte Wulf und seine Gruppe vor, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ seinen Blick durch den Vorgarten wandern. Die Stufen der Veranda wurden von rund geschnittenen Buchsbäumen flankiert. Daneben erstreckte sich ein frisch umgegrabener Streifen Erde, der um das ganze Haus führte. Wulf stellte sich vor, wie hier im Sommer Blumen blühten und die Luft nach Nelken, Rosen oder Dahlien roch. Dann fragte er sich, ob wohl jemals wieder Blumen den Bungalow wie ein farbenfrohes Meer umspülen werden.
Dan reichte jedem die Hand. Sein Lächeln wirkte ehrlich, wenn

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