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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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Wie mochte sich der Junge dabei fühlen? War er überhaupt noch ein kleines Kind? Die Überlegungen, die Wulf anstellte, verstärkten die Einsamkeit des Anblickes noch, den der Junge bot. Ein Kind sollte auf der Straße mit seinen Freunden spielen und sich am Abend auf seine Lieblingsserie im Fernsehen freuen können. Seine größte Sorge sollte sein, wie er die Schlafenszeit um eine weitere halbe Stunde hinauszögern konnte, und nicht ob er den nächsten Tag überlebte.
Wulf blickte in die andere Richtung der Straße, wo die Stadt vom Betonwall und dem hölzernen Tor begrenzt wurde. Ihre Welt war auf einen winzigen Punkt zusammengeschrumpft. Ein winziger Felsen inmitten eines düsteren, morastigen Ozeans. Jenseits der Mauer begannen Tod und Furcht. Dort lauerte eine Schwärze, die sich den kläglichen Rest der Menschheit einverleiben wollte. Er fragte sich für einen kurzen Augenblick, welche Seite des Walls das bessere Ende bereithalten würde. Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedankengänge. Als Wulf öffnete, stand Christine vor ihm, die junge Frau, die sich in der Küche des Hotels um die Verpflegung kümmerte.
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas Appetit«, lächelte sie und balancierte ein Tablett auf ihrer Hand. Wulf konnte einen Teller mit dampfender Suppe sehen, sowie eine Flasche Orangensaft und einige Früchte, die zweifelsohne aus einer Dose stammten.
»Sie müssen uns nicht auf dem Zimmer verköstigen«, antwortete Wulf verlegen und trat zur Seite, um Christine einzulassen.
»Keine Sorge, das werde ich auch nicht.« Sie warf ihm einen gespielt ernsten Blick zu und schob sich an ihm vorbei. »Ich dachte mir nur, dass die vielen neuen Eindrücke unserer kleinen Gemeinschaft Sie vielleicht hungrig gemacht haben.« Sie arrangierte den Teller, die Saftflasche und die Obstschale auf dem Tisch und klemmte sich das Tablett unter den Arm. »Die übrigen Gäste unseres Etablissements kommen einfach in die Küche und nehmen sich, was sie möchten.«
»Das werden wir in Zukunft auch tun. Versprochen.«
Als Wulf zum Tisch ging, trat sie einen Schritt zurück. »Ich würde mich sehr freuen, Sie in meinem kleinen Reich begrüßen zu dürfen.«
Sie verbeugte sich theatralisch und lachte dabei. Ihr schulterlanges, schwarzes Haar hatte sie zu einem winzigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Art zu sprechen und der Klang ihrer Stimme fesselten Wulfs Aufmerksamkeit, so dass er in seiner Bewegung innehielt und Christine ungeniert ansah.
Er hatte schon immer Schwierigkeiten damit gehabt, das Alter von Frauen richtig einzuschätzen. Mehr als einmal war er damit unangenehm aufgefallen und hatte sich entrüstete Blicke seines Gegenübers eingehandelt. Christine machte den Eindruck, als sei sie Anfang dreißig. Doch einige Kleinigkeiten an ihr verrieten ihm, dass sie älter sein musste: Winzige Fältchen um ihre hellen, grünen Augen, die Art, wie sie ihre Lippen schürzte, wenn sie eine manierierte Ernsthaftigkeit an den Tag legte. Die gelungene Mischung aus Jugend und Reife ließen sie in Wulfs Augen wie einen leuchtenden Engel wirken, der sich inmitten der Apokalypse vom Himmel begeben hatte, um die Botschaft vom Ende der Welt auf seine ganz eigene, reizvolle Weise zu verkünden.
»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er trat vor sie und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Jim Brewster, aber alle nennen mich Wulf.«
»Ich weiß«, erwiderte sie mit einem Lächeln, das Wulf in seiner Annahme bestätigte, einem Engel gegenüber zu stehen. »Mein Name ist Christine. Einfach nur Christine. Nichts weiter.«
Wulf nickte und betrachtete ihre schlanke Hand in der seinen. Sie war Arbeit gewöhnt, dennoch fühlte sich ihre Haut weich und warm an.
»Warum setzen Sie sich nicht?« Wulf deutete einladend in Richtung Tisch, doch Christine schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht üblich, dass wir mit unseren Gästen auf deren Zimmer speisen.« Sie lachte, ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um. »Aber ich lasse Ihnen das Tablett hier. Der Service beschränkt sich nur aufs Bringen.«
Mit einem gekonnten Schwung warf sie das Bambustablett auf das Bett und wandte sich mit einem Augenzwinkern an Wulf: »Bis später. Lassen Sie es sich schmecken.«
Als die Tür sich geschlossen hatte, starrte Wulf noch eine ganze Weile auf die Stelle, an der er noch immer das Abbild eines schwarzhaarigen Engels sah. Dann wandte er sich lächelnd dem Essen zu und schloss die Augen, als ihm der Duft frischer Kartoffeln aus der

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