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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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auch in seinen Augen eine tiefe Müdigkeit zu erkennen war.
»Ich freue mich über jeden, den sein Weg nach New Eden führt«, sagte er und strich Demi mit dem Handrücken über die Wange. Wulf bemerkte erstaunt, wie das Mädchen den Kopf zur Seite neigte. Wie es eine Katze tat, die gekrault werden wollte.
»New Eden?«
»Irgendwann hatte jemand unsere kleine Trutzburg so getauft«, antwortete Joshua und hob hilflos die Schultern. »Ich weiß nicht einmal, wer das war. Aber der Name gefiel uns, also nennen wir unsere Zuflucht New Eden.«
Dan nickte und blickte die Straße hinunter. »Irgendwie ist der Name auch passend, finden Sie nicht?«
Wulf spürte einen Anflug von Schaudern, als er sich vorstellte, dass die beiden Straßenzüge, die Joshua und seine Leute eingezäunt hatten, die erste menschliche Siedlung der neuen Zeitrechnung darstellen könnten.
»Ich hoffe, wir sehen uns noch öfter«, fuhr Dan schließlich fort und lachte gleich darauf. »Aber das dürfte uns in unserem kleinen Dorf wohl nicht allzu schwer fallen.«
Er hob seine Hand noch einmal zum Gruß, tippte erneut an seinen imaginären Hut und verschwand mit der Tüte hinter dem Haus.
›Ein Mann, der seinen Abfall nach draußen bringt‹, dachte Wulf. Und doch weigerte sich sein Verstand, die Szenerie mit Normalität gleichzusetzen. Stille war normal geworden. Furcht war normal. Und das Heulen der Kreaturen in den Nächten. Der graue Himmel war normal. Nicht aber Dan, der seinen Abfall in den Garten eines Hauses brachte, dessen Besitzer nicht mehr existierten.
Sie gingen zur Straße zurück und setzten ihren Rundgang fort.
»Es leben nicht alle im Hotel?«, fragte Wulf. Sein Blick ruhte nachdenklich auf Demi und Daryll, die einige Schritte vor ihnen gingen.
»Nur wenige haben sich Zimmer im Hotel genommen«, antwortete Joshua mit ernster Stimme. »Viele kommen mit der neuen Situation noch nicht zurecht. Bis vor etwas mehr als zwei Wochen führten sie alle ein völlig anderes Leben, weit weg von hier. Sie hatten Familie und Freunde, einen Job und Ziele. Und jetzt haben sie gar nichts mehr.«
Wulf blickte zu einem niedrigen Haus mit Säulen vor dem Eingang, aus dessen geöffnetem Fenster leise Musik auf die Straße drang. Er glaubte Pink Floyd zu erkennen, doch die Klänge waren zu leise, um es mit Bestimmtheit sagen zu können.
»Die Menschen wurden über Nacht aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Sie wachten auf und ihr Leben hatte sich in eine stille, fremdartige und leere Hölle verwandelt. Manche von uns können das immer noch nicht akzeptieren.«
»Aber sie haben den Weg nach Mayfield gefunden«, warf Wulf ein. Die Musik verklang. Die Stille, die folgte, erschien ihm so hungrig und groß wie eine wilde Bestie.
»Reiner Überlebensinstinkt. Wie bei Ihnen. Bei manchen war es Zufall. Jeder hier hat eine andere Geschichte zu erzählen, mit anderen Ängsten, mit mehr oder weniger Tränen.« Joshua blieb stehen und sah Wulf in die Augen. »Die Menschen hier haben Angst, Jim. Sie tragen sie immer noch tief in sich verwurzelt und werden sie so schnell auch nicht los. Wir haben hier zwar eine kleine Gemeinschaft gegründet, in der jeder seine Aufgaben entsprechend seiner Befähigung erfüllt, aber die meisten versuchen immer noch allein mit der Katastrophe zurechtzukommen. In ihre Köpfe lassen sie niemanden herein. Deshalb haben sich viele von ihnen in den leer stehenden Häusern einquartiert.«
»Dan schien mir allerdings recht sorglos zu sein«, erwiderte Wulf.
Joshua blickte zu dem Haus zurück. »Jeder hier trägt eine Maske«, sagte er leise. »Furcht ist auch in der neuen Zeit etwas, das niemand zeigen will.«
Sie gingen weiter. Die beiden Straßen, die New Eden bildeten, waren durch Treppen und gepflasterte Wege, die zwischen den Grundstücken verliefen, miteinander verbunden. Viele der Häuser standen leer. Nur in wenigen konnte man Spuren von Leben erkennen. Als Wulf zwischen zwei Häusern hindurch zur parallel verlaufenden zweiten Straße blickte, sah er einen kleinen Jungen auf einem Fahrrad, der Kreise auf der Straße zog und dabei konzentriert auf den Asphalt starrte. Auch wenn der Junge ihm wie ein Wunder vorkam, in Anbetracht der Dinge, die sie erlebt hatten, so schnürte sein Anblick ihm dennoch die Kehle zu.
Der Junge lebte und war dennoch tot. An einem frühen Morgen, an dem er mit Freunden tobend und lärmend durch die Straßen rasen sollte, die Räder mittels einer Spielkarte ratternd wie ein Motorrad, zog der Junge einsame, stille

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