Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Wärme des anderen. Wulf konnte nicht verhindern, dass er an Ellen dachte. Er spürte ein nagendes Schuldgefühl in sich aufsteigen, als er seine Hände auf Christines Schultern betrachtete, die sonst immer nur Ellen berührt hatten. Doch er ließ sie nicht los. Ihre Nähe war im Augenblick das Einzige, das in dieser Welt von Bedeutung war.
»Schenken Sie mir einen kleinen Spaziergang durch die Stadt?«
Christine löste sich von ihm, drehte sich um, hielt jedoch Abstand. »Hat Ihnen Joshua nicht bereits unser kleines Paradies gezeigt?«
Wulf lachte und schüttelte den Kopf. »Es ist nicht dasselbe, ob man mit einem Soldaten durch die Stadt marschiert oder eine hübsche Frau an seiner Seite hat.«
Christine senkte ihren Blick und stellte die Kaffeetasse neben der Maschine ab. »Wie könnte ich jetzt noch ›Nein‹ sagen? Warten Sie, ich hole nur meine Jacke.«
Sie löste sich vollends aus seiner Nähe, ging zu einem Schrank, der früher einmal als Vorratsschrank gedient haben mochte, und griff nach einer abgetragenen Jeansjacke. Dann verließen sie gemeinsam das Hotel.
Wulf wurde daran erinnert, wie oft und gerne er mit Ellen durch Deep River spaziert war. Er hatte es stets genossen, neben ihr zu laufen und ihre Hand zu halten. Er war stolz auf Ellen und die Blicke gewesen, welche die Leute dem Pärchen zugeworfen hatten. In ihrer Nähe hatte er immer dieses warme, tiefgehende Gefühl von bedingungsloser Liebe verspürt, das viele andere Paare nur in den ersten Monaten ihrer Beziehung ihr Eigen nennen konnten. Seine Beine waren von alleine gelaufen und sein Mund wollte einfach nicht aufhören, dummes Zeug zu plappern, so wie es normalerweise nur verliebte, kleine Jungen taten.
Bei Christine war es anders. Er mochte sie, dessen war er sich jetzt schon sicher. Doch neben ihr über die Straße von New Eden zu spazieren, beförderte andere Gefühle in ihm an die Oberfläche. Gefühle, die bisher fremd für ihn gewesen waren, die er im Augenblick jedoch dringender benötigte, als wärmende Liebe.
Es war einfach die Gewissheit, mit jemandem, in dessen Nähe er sich geborgen und sicher fühlte, durch eine Stadt zu gehen, die ihrer aller Zukunft bedeuten konnte. Wulf brauchte ihre Nähe und das angenehme Gefühl, das eine zufällige Berührung während des Gehens in ihm erzeugte. Das Gefühl, nicht alleine zu sein. Das Gefühl, hoffen zu dürfen. Er würde es gegen keine Liebe der Welt eintauschen wollen.
Sie schlenderten an Dans weißem Bungalow vorbei. Die Rollläden waren heruntergelassen und die Haustür verschlossen. Auch der kleine Junge, der auf der Veranda seines neuen Zuhauses gespielt hatte, war verschwunden. Stattdessen sah Wulf eine ältere Frau, die hinter einem der Fenster stand und ihn und Christine beobachtete. ›Die neue Mutter des Jungen‹, dachte er. Seine Gedanken drohten zu dem Kind und der Ungerechtigkeit Gottes zurückzukehren.
Wie am frühen Morgen war die Straße leer. Sie sprachen kein Wort. Aus einem offenen Fenster drangen leise Worte auf die Straße. Wulf brauchte eine Weile, bis er darin Dialoge eines Films erkannte. Scheinbar sah sich jemand eine DVD an.
»Gibt es in allen Häusern noch Strom?«, fragte er und versuchte einen Blick durch das offene Fenster zu werfen, als sie an dem Haus vorbeigingen. Doch er starrte lediglich in ein schwarzes Loch.
»Nein, Strom gibt es nicht mehr. Aber die Menschen haben sich batteriebetriebene Geräte aus dem Supermarkt geholt, um einen kleinen Teil ihres alten Lebens zurückzuerlangen. In den Häusern gibt es nur Kerzen und Taschenlampen. Das einzige Haus, das über einen Generator verfügt, ist das Hotel.«
Wulf dachte darüber nach, wie verschwenderisch die Menschen mit Batterien umgingen, wenn sie sich Filme auf tragbaren DVD-Geräten ansahen oder Musik hörten. Der Generator schien ebenfalls Tag und Nacht zu laufen, denn auf allen Zimmern gab es Licht, und Christine schaffte es, warme Mahlzeiten in der Küche zu bereiten. Er dachte darüber nach, dass dem Supermarkt eines Tages die Batterien ausgehen würden und sie mit Sicherheit keine neue Lieferung erwarten konnten. Das gleiche galt für den Treibstoff des Generators.
»Ich weiß, was Sie denken«, überraschte Christine ihn. »Joshua ist der Ansicht, dass es im Augenblick ein fataler Fehler wäre, den Menschen hier ihre letzten Verbindungen zu ihrem alten Leben zu nehmen. Jeder von uns klammert sich daran fest, dass man immer noch die Möglichkeit besitzt, Filme zu sehen oder Musik zu hören. Für
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