Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Moment und tranken ihren Kaffee. Der Duft, der den Raum erfüllte, erinnerte Wulf an die gemütlichen Sonntage in ihrem kleinen Esszimmer in Deep River, wenn die Sonnenstrahlen schräg durch das große Fenster auf den Teppich fielen und ihn zum Leuchten brachten.
»Was ist Ihre Geschichte?«, fragte Christine plötzlich. Ihr Gesicht war immer noch ernst und verriet ihr wahres Alter, doch in ihre Augen war der helle Glanz eines Engels zurückgekehrt.
Wulf überlegte. Was war eigentlich seine Geschichte? Seit Ausbruch der Katastrophe hatte er von einem Moment auf den anderen gelebt. Jeder hätte sein letzter sein können. Über mehr als den nächsten Schritt hatte er sich keine Gedanken gemacht. Im Grunde besaß er keine eigene Geschichte, nur Erinnerungen. Er funktionierte einfach und lebte.
»Ich bin ungefähr vierzehn Tage nach … was auch immer … aus Deep River aufgebrochen, bin in Devon auf die anderen gestoßen und habe mich mit ihnen zusammen bis nach Mayfield durchgeschlagen. Das ist alles.«
Christine nickte und schürzte in ihrer eigenen Art die Lippen, als würde sie über Wulfs Worte nachdenken. Dann nickte sie erneut. »Ich glaube, wir haben alle keine Geschichte mehr. Wir haben sie in dem Land dort draußen vor dem Tor zurückgelassen. Unsere Geschichte beginnt hier und jetzt und endet in nicht allzu ferner Zukunft.«
Wulf sah sie über den Rand seiner Tasse an. »Sie glauben, wir haben hier keine Zukunft?«
Sie zuckte mit den Schultern. Die Klarheit in ihren Augen verschwand und zum ersten Mal erkannte Wulf, dass Engel Furcht empfinden können.
»Joshua und die Männer haben hier einzigartige Arbeit geleistet. Sie haben uns eine Oase inmitten der Zerstörung und des Todes geschaffen. Ich glaube schon, dass wir hier sicher sind.« Ein Anflug von Verzweiflung zog sich über ihr Gesicht, den sie jedoch sofort wieder mit ihrer Souveränität unter Kontrolle brachte. »Aber wir leben hier in zwei Straßen. Ein klitzekleiner Flecken Farbe in einem schwarzen Meer. Die sprichwörtliche Träne im Ozean des Todes.«
Sie breitete die Arme aus, um ihre Worte zu unterstreichen. Dann schwieg sie, trank ihre Tasse aus, während Wulf über ihre Worte nachdachte. Er wusste, dass viel Wahres in Christines Aussage steckte. Und doch weigerte er sich, so leichtfertig anzuerkennen, dass sie in Mayfield keine Zukunft haben sollten. New Eden war relativ sicher; es gab genügend Lebensmittel und ausreichend Platz zum Leben. Was die Zukunft ihnen bescherte, konnte tatsächlich niemand sagen. Doch sie alle waren nicht allein, sie hatten einander. Auch wenn sie sich noch fremd waren und viele mit ihrem Schicksal haderten und das Geschehene nicht in ihren Verstand durchdringen ließen, so würden doch Tage kommen, in denen jeder von ihnen den Wert ihrer kleinen Gemeinschaft erkennen würde, so wie Wulf die Loyalität und Sicherheit seiner kleinen Gruppe in sein Herz und seine Gedanken aufgenommen hatte. Er betrachtete Christine, die ihm den Rücken zuwandte, während sie sich eine weitere Tasse Kaffee einschenkte. Sie hatte Angst, auch wenn sie es durch Koketterie zu überspielen versuchte, und dachte an ihre Familie, ihren Mann und ihre Kinder, die sie in den Betongräbern der Stadt zurücklassen musste. Aber sie machte sich auch Gedanken über ihre Zukunft in Mayfield. Wulf fand, dass Christine mit dieser Einstellung weiter war, als viele andere ihrer kleinen Gemeinschaft, die er bisher kennenlernen durfte. Das wiederum machte sie stark, auch wenn sie das selbst noch gar nicht wusste.
Es war ein spontaner Impuls, der ihn aufstehen und zu ihr gehen ließ. Sie spürte, wie er sich näherte und hielt in ihrer Bewegung inne. Als er ihr die Hände auf die Schultern legte, verkrampfte sie für einen kurzen Moment. Doch dann hatte Wulf den Anschein, als würde sie sich fallenlassen.
»Ich finde durchaus, dass wir hier eine Zukunft haben«, sagte er leise und zog sie etwas näher zu sich heran. Christine lehnte sich mit dem Rücken gegen seine Brust. »Die Menschen hier haben den ersten Schritt bereits getan, indem sie in New Eden zusammengefunden haben. Den nächsten Schritt zu wagen, liegt bei uns allein. Aber alles braucht seine Zeit.«
Christine drehte sich nicht zu ihm um, sondern starrte auf die halbvolle Tasse in ihrer Hand. Wulf stellte bestürzt fest, dass ihre Hände leicht zitterten.
»Ich hoffe so sehr, dass Sie Recht haben«, flüsterte sie.
Für einige Momente blieben sie schweigend stehen. Jeder genoss die Nähe und
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