Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
Vom Netzwerk:
mich ist es das Kochen, für andere das Lesen eines Buches bei Licht am Abend. Man kann das den Menschen jetzt nicht nehmen. Nicht nach all den schrecklichen Erlebnissen der letzten drei Wochen. Sie sind zu verletzbar. Es wäre ungefähr so, als würde man einem kleinen Kind mit einem Schlag sein gesamtes Spielzeug wegnehmen. Die Leute hier würden durchdrehen und das bisschen Hoffnung, dass ihnen Joshua und Mayfield gegeben haben, wieder verlieren.«
Sie kamen an einem Haus vorbei, aus dem leise Musik drang. Wulf stellte sich vor, wie jemand im Sessel saß, das Radio auf seinen Knien stehend, und an die alte Welt zurückdachte, während er Liedern lauschte, zu denen er zum ersten Mal mit seiner Frau getanzt hatte. Er fühlte sich wie ein Untier, als ihm seine Gedanken von Verschwendung in den Sinn kamen. Wulf musste Joshua Recht geben. Die Leute in New Eden besaßen nichts mehr. Sie hatten jeden verloren, der ihnen jemals wichtig im Leben war. Sie fühlten sich allein und in ihrer Einsamkeit klammerten sie sich an alles, was sie an ihr Leben in der alten Welt erinnerte.
»Die Menschen müssen erst zueinander finden«, fuhr Christine fort. »Dann wird die Erkenntnis, dass sie ihre Zukunft nur gemeinsam gestalten können und sie ihre Nahrungsmittelvorräte rationieren müssen, von alleine kommen. Doch bis es soweit ist, muss jeder auf seine eigene Weise versuchen, seinen Platz in der neuen Welt zu finden. Die einen tun das mit Musik, die anderen mit Filmen, wiederum andere lesen den ganzen Tag oder tun alltägliche Dinge aus ihrem früheren Leben, die hier absolut keinen Sinn ergeben.«
Wulf dachte an Dan, der am Morgen einen Müllsack aus dem Haus getragen hatte. »Und Sie tun das, indem Sie kochen«, unterbrach er seine aufkommende Erinnerung.
Christine sah ihn von der Seite an und lächelte nach langer Zeit endlich wieder. Der Engel war zurück.
»Ja … ich tue das mit Kochen.«
Sie gingen eine Weile schweigend weiter. Zwei Jungen von etwa zehn Jahren, von denen einer einen alten Fußball unter dem Arm trug, kamen ihnen entgegen. Sie nickten kurz und betrachteten ungeniert die hünenhafte Statur von Wulf. Dann verschwanden sie in einem der Häuser.
»Du bist eben der Neue«, lachte Christine.
Wulf drehte sich um und blickte zu dem Haus zurück, in dem die Jungen verschwunden waren. Zwei Fahrräder standen auf dem Rasen, doch ansonsten wirkte das Haus verlassen. Nichts deutete mehr darauf hin, dass darin zwei lebhafte Kinder lebten.
»Du?« Wulf blieb stehen und sah seine Begleiterin mit zur Seite geneigtem Kopf und schelmischem Grinsen an.
Christine fuhr sich mit der Hand durch die Haare, so dass sie nach allen Seiten standen, was sie noch hübscher machte. »Wir sollten das alberne ›Sie‹ vergessen«, lachte sie. »Das haben wir ebenso hinter uns gelassen wie unsere Nachnamen.«
»Ich muss sagen, die neuen Umgangsformen unserer Gesellschaft fangen an, mir zu gefallen. So wird es ein Leichtes sein, Frauen aufzureißen.«
»Nur dass es nicht mehr viele Frauen gibt, mein lieber Jim.« Christine lief zwei Schritte vor, drehte sich um und ging rückwärts vor ihm her. »Du müsstest also schon mit mir Vorlieb nehmen.« In ihre Augen war der alte Glanz zurückgekehrt. Er betrachtete sie und fand, dass sie derart unbekümmert wieder wie der Engel aus seinem Zimmer aussah. Auf ihren Flirtversuch antwortete er lediglich mit einem Lächeln.
Sie gingen weiter, bis sie in die Nähe des Begrenzungswalls kamen. Die geschlossene Tür darin wirkte wie ein Tor in eine andere Welt. Wulf spürte, wie sich beim Anblick dieser Tür seine Nackenhaare aufrichteten. Er glaubte, ein leises Summen in der Luft zu hören. Christine blieb unvermittelt stehen und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Wir sollten wieder umkehren«, sagte sie mit einer Stimme, die ihre Festigkeit vermissen ließ.
Wulfs Augen hefteten sich auf die Betonplatten. Erst jetzt fiel ihm ein Graffiti auf, das ihm am Morgen entgangen war. Neben die Tür war mit schwarzer Farbe ein grinsender Totenschädel gemalt. Das Summen hatte sich in ein leises Stöhnen verwandelt. Er wurde an Krankenhäuser erinnert, in denen Menschen mit Schmerzen in ihren Betten lagen und wehklagten.
»Was ist hinter der Mauer?«
Er bemerkte, wie sich Christine bei ihm unterhakte. Unter normalen Umständen hätte ihm diese Geste gefallen und er hätte sich dem kindlichen Kribbeln im Magen hingegeben. Doch Christine wirkte plötzlich verängstigt. Ihre Lippen bewegten sich, ohne dass sie Worte

Weitere Kostenlose Bücher