Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
ihrer Großmutter, die der Tod aus ihrem Siechtum gerissen hatte. Und ihre eigenen verzweifelten Schreie. Die Schreie der Toten … so lange und laut, bis die Schreie sie in eine weit entfernte, finstere Welt tief in ihrem Innern geführt hatten und dort hilflos zurückließen.
Als Demi jetzt in Megs Zimmer saß, war es still. Die Schreie hörten zum ersten Mal auf. Sie betrachtete das bleierne Gesicht des Mädchens und fragte sich, wie laut ihre Schreie hallen mochten.
»Willst du, dass ich dir erzähle, was passiert ist?«
Meg reagierte nicht. Ihre Füße wirkten so weiß, als wären sie aus feinstem Marmor.
»Ich habe meine Mutter sterben sehen«, fuhr Demi mit lautloser Stimme fort und starrte zum Fenster hinaus. »Sie wollte mich beschützen und ich konnte ihr nicht helfen.«
Die Erinnerungen stiegen wie eine Flut in ihr auf und zeichneten scheußliche, blutgetränkte Bilder in ihrem Bewusstsein. Demi starrte zum Fenster hinaus und betrachtete den grauen Himmel über Mayfield, der wie ein Gemälde über der Stadt hing. Sie begann mit stockender Stimme zu erzählen und Meg hörte ihr schweigend zu.
IX
Nachdem er Joshua in seinem Zimmer nicht angetroffen hatte, saß Wulf auf den Stufen des Hoteleingangs und warf einige aus einem Blumenkübel gegrabene Erdklumpen auf die Straße. Es war merkwürdig still geworden. Die Menschen hatten sich auf ihre Zimmer oder in die Häuser zurückgezogen. Nirgends war Musik zu hören. Die Häuser wirkten trotz der Tatsache, dass sie von Fremden bewohnt wurden, verlassen und aufgegeben. Die Stadt hatte aufgehört zu atmen.
Wulf dachte über seine eigenen Worte nach, die er Christine gegenüber geäußert hatte. Die Ängste der Menschen, die ihren Weg nach Mayfield gefunden haben, saßen tief. Sie wurden mit dem Erlebten nicht fertig und verdrängten ihre düsteren Erinnerungen an die vergangenen drei Wochen, indem sie sich isolierten, um durch nichts an den Verlust geliebter Menschen erinnert zu werden. Wulf machte es im Grunde nicht anders. Er mied zwar nicht die Gegenwart anderer Leute, doch er tat alles dafür, Bilder und Gedanken an Mikey und Ellen nicht an die Oberfläche seines Denkens steigen zu lassen. Er wusste nicht, ob Verdrängung eine gute Taktik zum Überleben war, doch sie half eindeutig dabei, ihr neues Leben in einer ausgelöschten Welt Stück für Stück akzeptieren zu können, so lange dieser Prozess auch andauern mochte.
Ein Geräusch riss Wulf aus seinen Gedanken, die sich immer wieder im Kreis drehten. Joshua kam in Begleitung seines Kumpels, der ihn auch schon am Tor mit der Waffe im Anschlag begrüßt hatte, und eines dritten Mannes auf ihn zu. Sie alle trugen Werkzeuggürtel um die Hüften geschnallt.
»Mir scheint, wir werden erwartet«, grinste Joshua und reichte Wulf die Hand.
»Sie waren nicht auf Ihrem Zimmer. Da dachte ich mir, dass Sie irgendwelche Arbeiten zu verrichten haben.«
Joshua nickte und deutete in Richtung des Betonwalls. »Wir verbinden die Wände mit Stahlstreben. Ich glaube zwar nicht, dass es irgendein Geschöpf auf der Erde schaffen könnte, die Wälle zu verschieben. Aber Sicherheit ist das oberste Gebot in New Eden.«
Wulfs Bewunderung für diesen Mann wuchs. Joshua machte einen erschöpften Eindruck. Dunkle Ringe hatten sich unter seinen hellen Augen gebildet und doch wurde er nicht müde, sich um die wenigen Menschen, die von der Welt übrig geblieben waren, zu kümmern. Wulf wurde daran erinnert, dass Mikey ihn mit dem Indianer aus seinen Comics verglichen hatte. Für seinen Sohn war Wulf der Held gewesen. Hier in New Eden gab es andere.
»Das ist übrigens Parker«, wandte sich Joshua an seinen Gefährten. Parker reichte Wulf eine große, schwielige Hand und nickte ihm knapp zu. Der Mann machte einen kräftigen Eindruck, doch die Entbehrungen der letzten Wochen waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Seine Wangen wirkten eingefallen, die Augen müde.
»Und das ist Barry. Er kam mit dem Helikopter, der draußen auf dem Acker steht.«
Das Wort ›draußen‹ verursachte ein mulmiges Gefühl in Wulfs Magen. Sie waren hier ›drinnen‹ . Dort ›draußen‹ war der ganze Rest der Welt – eine gigantische Masse, die sie zu zerquetschen drohte.
»Hören Sie, Joshua. Ich möchte mich Ihnen gerne anschließen und Ihnen bei den Arbeiten helfen.«
Joshua nickte und rückte seinen Werkzeuggürtel zurecht. »Ich hätte Sie ohnehin darum gebeten«, lächelte er. »Wollte Ihnen nur eine kleine Eingewöhnungsphase gönnen.« Er
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