Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Kopf drohten die Schreie ihrer Mutter ihr Bewusstsein zu ertränken. Sie duckte sich unter den finsteren Wogen ihrer Erinnerungen, machte sich so klein, wie es ihr nur möglich erschien und weinte, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Es tat ihr gut. Sie spürte, wie die Tränen ihren Körper von Asche und Gestank reinigten.
Etwas bewegte sich im Nebel, der sich wie ein schützender Mantel um ihren frierenden Leib gelegt hatte. Als sie aufblickte, erkannte sie einen verschwommenen Schemen, der sich schwerfällig auf sie zu bewegte. Ihre Mutter … Sie machte sich noch kleiner, kauerte sich wie ein Embryo auf dem Stuhl zusammen … Sie schrie … Mit dem Arm wischte sie sich über die Augen, auf ihren Lippen schmeckte sie bitteren Schleim. Aus ihrer Höhle heraus blickte Demi ins Zwielicht des späten Nachmittags und konnte einen Schrei nur mit Mühe unterdrücken.
Vor ihr stand Meg.
Die Arme des Mädchens hingen kraftlos an den Seiten herab. Ihr Kopf war geneigt, der Blick auf Demi gerichtet. Zum ersten Mal bekam Demi das Gefühl, dass das Mädchen sie bewusst wahrnahm. Meg kam einen unbeholfenen Schritt näher. Sie erinnerte Demi an jemanden, der im Schlaf durch die Nacht torkelte. Dann ging das Mädchen langsam in die Knie, bis sie sich auf einer Höhe mit Demi befand. Eine kalte, zarte Hand legte sich auf Demis Arm. Die Berührung ließ sie erschaudern.
»Holly und Jenny waren mein Leben«, flüsterte Meg mit schwerer Stimme. Es klang, als würde Sandpapier über Stein reiben. Ihr Blick ruhte auf Demi und schien doch in weite Ferne gerichtet. Demi sah, dass Tränen in den Augen des Mädchens glitzerten. Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf und ergriff Megs kalte Hände.
»Wir lebten in einem Waisenhaus in Cromwell. Holly, Jenny und ich. Wir waren Schwestern und die einzigen, die übrig geblieben sind.«
Megs Mundwinkel zitterten. Demi wusste nicht, ob sie zu lächeln versuchte. Eine Träne rann über die Wange des Mädchens, blieb an ihrem Kinn hängen und tropfte auf das geblümte Nachthemd.
»Keiner war mehr übrig. Die Monster hatten sich alle Toten geholt. Nur Holly, Jenny und ich waren noch da. Aber sie kamen wieder zurück … die Monster.« Megs Stimme brach, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken.
»Wir hatten uns in unserem Zimmer eingesperrt und hörten die Bestien, wie sie durch die Flure schlichen. Glas zersplitterte und Möbel wurden umgestoßen. Ein fürchterlicher Gestank drang unter der Tür hindurch in unser Zimmer.« Meg schloss die Augen. Ihre Lider zitterten, die Mundwinkel bebten. »Das Schlimmste aber war ihr Heulen. Ein helles, hungriges Heulen. Es ließ die Wände unseres Zimmers erbeben.«
Megs Blick entrückte. Sie griff nun ihrerseits nach Demis Händen und drückte sie mit erstaunlicher Kraft. Plötzlich war es still im Zimmer geworden. Es gab nur noch Demi, Meg und deren leise Stimme, die wie der Wind in Demis Verstand drang und ihr Megs düstere Welt offenbarte.
»Wir hatten uns unter die Betten gerollt und hörten sie näher kommen. Krallen, die über den Boden schabten, Knurren, Atmen und heiseres Keuchen. Der Gestank nach Aas wurde unerträglich. Und dann … dann …« Megs Stimme wurde plötzlich lauter. »Sie schlugen mit ihren Pranken gegen die Tür, zerfetzten das dünne Holz mit Krallen, die so lang wie Finger waren. Ich konnte sie sehen, ihre widerlichen, nackten Leiber. Geifer spritzte aus ihren Mäulern, ihre Augen waren so gelb wie die wilder Tiere. Als sie ins Zimmer kamen, ertranken wir in einem Meer aus Gestank, Verwesung und Tod.«
Megs Finger krallten sich in Demis Handgelenke. Ihre Augen starrten wie die einer vom Irrsinn Befallenen in die Ferne. Ihre Lippen zuckten, Speichel lief aus ihrem Mundwinkel.
»Holly schrie als erste. Sie war die jüngste. Eine der Bestien zog sie an den Beinen unter dem Bett hervor. Sie strampelte und kreischte und trat dem Monster immer wieder gegen den wolfsähnlichen Kiefer. Eine zweite Kreatur, größer und schwärzer als die erste, schnappte nach Jenny, die unter dem Bett hervorgekommen war, um ihrer Schwester zu helfen. Jenny schrie und keuchte und riss sich die eigenen Haare büschelweise aus. Die Bestie zerrte auch sie aus dem Zimmer.« Ihre Stimme senkte sich zu einem heiseren Flüstern. Tränen rannen in Strömen über ihr bleiches Gesicht. »Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nicht atmen. Meine Finger krallten sich um den Stahlrahmen des Bettes. Ich wagte es nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen.« Meg
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