Graues Land (German Edition)
schleppenden Klang zu verleihen.
»Wer sagt mir, dass du es bist, Harv«, hallt Murphys Stimme durch die Stille.
Ich kann mir ein bitteres Lachen nicht verkneifen.
»Was?«
»Woher soll ich wissen, dass du das bist, Harv Jennings?«
Mein Blick fällt erneut auf das graue Gemälde des Waldes hinter dem Haus. Irgendetwas zwischen den dunklen Stämmen zieht mich in seinen Bann.
»Ich stehe doch hier, du verdammter Ochse!«, schreie ich und breite die Arme aus, wobei ich unbewusst mit dem Gewehr auf das Haus ziele.
»Nimm das Gewehr runter, Harv, oder ich puste dir die Eingeweide heraus!«
Ich verharre mitten in der Bewegung und starre ungläubig auf den dunklen Stahl von Murphys Waffe. Die Luft um mich herum scheint sich zusammenzuziehen und mir das Atmen zu erschweren. Die Hütte, der Parkplatz und Murphys alter Ford verschwimmen vor meinen Augen als flimmere Asphalt unter der Sonne.
Es fällt mir schwer zu verstehen, was hier geschieht. Ich befinde mich inmitten eines abartigen Gemäldes, das der Teufel selbst mit dem Blut seiner Sünder gemalt hat. Es gibt nichts mehr, an das ich mich klammern kann. Nichts mehr, das mir vertraut vorkommt. Selbst Murphys Stimme klingt wie die Verzweiflung eines alten Mannes. Mein Freund versteht ebenso wenig, was vor sich geht, wie ich. Oder aber er hat schlichtweg den Verstand verloren.
»Was denkst du denn, wer ich bin?«, frage ich, während ich den Lauf meiner Waffe zu Boden richte.
Lange Zeit erhalte ich keine Antwort. Lediglich der zitternde Lauf des Gewehrs beweist mir, dass mich Murphy nach wie vor durch den Spalt im Holzladen beobachtet.
»Vielleicht bist du einer von Ihnen «, sagt er schließlich, mit einer Stimme, die einem resignierenden Seufzen gleicht. »Ich bin nicht dumm, Harv. Ich habe Sie gesehen. In der Nacht. Sie sind bis auf die Veranda gekommen.«
»Wer sind Sie ?«
Stille.
Dann antwortet Murphy, so leise, dass ich ihn kaum noch verstehen kann: »Diese widerlichen Ungeheuer. Sie sind mit den Beben gekommen. Irgendetwas hat sie aus der Erde gespült.«
Ich höre eine tiefsitzende Furcht in seinen Worten und in meinem Kopf erscheint plötzlich das Bild des Shoggothen , den ich auf der Wiese hinter meinem Haus gesehen hatte.
»Es gibt keine Ungeheuer«, rufe ich und fühle im selben Augenblick eine tief empfundene Schuld in mir hochkommen. Ein beißendes Gefühl, das mein ganzes Leben schon in mir aufgestiegen war, wenn ich zu einer Lüge greifen musste.
»Erzähl mir keinen Mist. Vielleicht bist du ja eines der Ungeheuer, das sich Harvs Körper übergeworfen hat.« Murphys Stimme überschlägt sich, sodass ich Schwierigkeiten habe, die letzten Worte zu verstehen.
»Hast du den Verstand verloren?«, frage ich und bereue im nächsten Augenblick meine Worte. Ich denke, Murphy in dieser Situation zu reizen, wäre das Dümmste, das ich tun kann.
»Wie heißt deine Frau?«
Murphys Stimme klingt plötzlich ernst und konzentriert. Ich kann förmlich seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen sehen, mit denen er mich durch die Ritzen des Holzladens taxiert.
»Sarah!«, brülle ich. Und in Gedanken: »Du verfluchter Hornochse!«
Unter dem Ford beginnt das trockene Laub zu rascheln, als ein Windstoß hindurchfährt. Unwillkürlich zucke ich zusammen und mache einen Schritt zur Seite.
Braune und schwarze Blätter tanzen in kleinen Pirouetten über den brüchigen Asphalt und bleiben sterbend zu meinen Füßen liegen. Ein Zweig fällt auf das Dach des Wagens, was in der erdrückenden Stille der Welt dem Donnern eines Hammers auf einem Amboss gleichkommt. Als ich wieder zu Murphy blicke, stelle ich erleichtert fest, dass sich der Gewehrlauf gesenkt hat.
»Was willst du hier, Harv?«
Unter normalen Umständen hätte mich die Frage zum Lachen gebracht, denn immerhin betreibt mein Freund seit Jahrzehnten einen kleinen Lebensmittelladen inmitten der Hügel. Die wenigen Menschen, die hier oben leben, sind seine besten Kunden. Doch den meisten Umsatz macht Murphy mit auf der Durchreise zwischen Devon und Kagan´s Creek befindlichen genervten Eltern und abenteuerlustigen Jugendlichen.
Während Erstere ihren Kindern die ermüdende Fahrt durch die Hügel mit allerlei Süßigkeiten und billigem Spielzeug zu versüßen suchen, sind die jungen Leute in ihrem Bestreben, trotz Minderjährigkeit, an Alkohol zu kommen, fast unermüdlich. Für Murphy sind beide Kategorien potentielle Einnahmequellen, auch wenn er sich bewusst ist, dass er bei den Jugendlichen die
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