Graues Land (German Edition)
den Sessellehnen, mein Blick ist starr auf den Fernseher gerichtet.
In dem Sturm an Gedanken, der orkanartig durch meinen Kopf wirbelt, taucht, wie zur Krönung eines besonders surrealen Traumes, immer mal wieder das hübsch anzusehende Gesicht der jungen Nachrichtensprecherin mit der erotischen Stimme auf. Ihr Antlitz zeichnet sich wie eine Geistererscheinung auf dem Schwarz des Fernsehers ab.
Doch diesmal gleicht ihr ansonsten freundliches und – für meine Begriffe – berauschendes Gesicht einer abstrusen Maske aus Furcht und Ekel. Ihre Augen starren in blindem Wahnsinn in die Kamera, ihre Pupillen zucken unkontrolliert von links nach rechts, während sie die Zähne fletscht und ihre Wangen zittern. Das blonde Haar, das sie stets zu einem verführerischen Knoten zusammengebunden hatte, hängt ihr wirr auf die Schultern und erscheint mir wie die vereinzelten, stumpfen Strähnen einer alten Vettel. Sie spricht etwas fieberhaft in die Kamera, doch ich kann kein Wort hören. Lediglich ihre zitternden Lippen bewegen sich hektisch.
Dann verschwindet ihre abscheuliche Maske vom Bildschirm, und ich kann Murphys Haus sehen. Die tiefen Schatten der Bäume halten den kleinen Laden unter sich begraben. Durch den Baldachin der Blätter über dem Dach fällt graues Sonnenlicht zitternd über zerschlissenes Holz und abblätternde Farbe.
Murphys Fenster kann ich als schwarzes Rechteck inmitten der Schatten erkennen. Als würde man in ein blindes Auge blicken. Murphy selbst kann ich nicht entdecken. Doch aus dem Fernseher dringt plötzlich seine Stimme, müde und schleppend und seltsam metallisch.
Diesmal verstehe ich die Worte.
»Wie heißt deine Frau?« , fragt er mich. Und dann: »Woher soll ich wissen, ob du wirklich Harv bist?«
Seine Worte treffen mich wie Dolche.
Murphys Stimme war stets ruhig und besonnen gewesen. Erst recht nach Audreys Tod. Nie habe ich ihn in den Zeiten unserer Freundschaft in einem derart hektischen und verzweifelten Tonfall reden hören wie an diesem Morgen. Was hat die Welt nur aus meinem Freund gemacht?
Ich schüttele den Kopf und fahre mir über die Augen. Nein, keine Freunde. Murphy hat an diesem Morgen unsere Freundschaft offiziell für beendet erklärt. Oder warum sonst hätte er mich mit einer Waffe bedrohen sollen?
Mein Verstand ist versucht, die alten Fotografien der Erinnerungen aus den Tiefen meines Bewusstseins an die Oberfläche zu zerren: Die gemeinsamen Ausflüge nach Devon, mit unseren Mädchen im Arm und dem Schalk im Nacken, um eben diesen Mädchen zu imponieren wie zwei verliebte, übermütige Teenager; die unvergleichlichen Abende auf der Veranda des Ladens, wenn die Sonne hinter den Hügeln verschwand und die Spitzen der Berge in Brand setzte; den Tag, als ich Murphy geholfen habe ein kleines Baumhaus für seinen Sohn Jeff hinter dem Laden zu bauen, in dem er dann später, als Jeff längst in die Stadt gezogen war, Säcke mit Reis, Getränkekisten und Stoffe lagerte. Wir hatten Pläne für unsere Zukunft gemacht, während wir das Dach und die Spalten zwischen den Brettern mit heißem Teer abdichteten und unsere freien Oberkörper im Sonnenschein vor Schweiß glänzten. Wir hegten konkrete Vorstellungen davon, wie unser Leben einmal verlaufen würde, wenn wir zwei alte, dumme Männer seien.
Murphys Vorstellung basierte darauf, dass Jeff eines Tages den Laden seines Vaters fortführen würde. Ein Gedanke, den der alte Narr stets mit einem glücklichen Leuchten in den Augen ausgesprochen hatte. Keiner von uns hätte jemals gedacht, dass sich unsere banalen Vorstellungen nicht annähernd mit der schrecklichen Wirklichkeit decken würden, welche das Schicksal für uns beide ausgesucht hat.
»Wie heißt deine Frau?« , fragt Murphy noch ein letztes Mal aus den Schatten des Hauses heraus, dann verstummt seine Stimme und die Worte verhallen wie fernes Donnergrollen über den Hügelketten. Das Haus verschwindet vom Bildschirm und nur der alte, bemitleidenswerte Mann in seinem zerschlissenen, altmodischen Sessel bleibt zurück – ein grauer Schatten in einer grauen Welt.
Ich hasse Sie, Mr. King, für diesen trivialen Satz, den ich einst bewundert habe, und der nun mein Leben prägt. Vielleicht haben Sie unbewusst mit diesem Satz das Ende der Welt herbeigeführt.
Obwohl es gerade einmal kurz nach Mittag ist, spüre ich eine tiefe Müdigkeit in mir. Wie gerne würde ich mich hinlegen und einschlafen. Einfach die Augen schließen, die abscheuliche Welt vor dem Haus aussperren
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