Graues Land (German Edition)
Händen beruhigen mich etwas, dennoch kann ich nicht verhindern, dass sich eine erbitterte Furcht in meinem Körper einnistet und jedes Organ mit seinen kalten Klauen umschlingt. Sarah würde mich einen ausgewachsenen Narren nennen, wenn sie wüsste, was ich hier tue.
Ein Blick auf Murphys Haus genügt, um zu wissen, dass mein Freund nicht mehr hier lebt. Doch dann blicke ich zu seinem klapprigen Ford mit den braunen Blätterhaufen um die Reifen. Erst jetzt erkenne ich zahlreiche Äste und Zweige, die auf der langen Motorhaube liegen und beginnen, die fleckige Windschutzscheibe zu bedecken. Noch nie in meinem Leben habe ich mich innerlich so zerrissen gefühlt. Noch nie so einsam ...
Unschlüssig stehe ich am Rande des kleinen Parkplatzes und lasse meinen Blick über die vertraute, und doch so erschreckend fremde Szenerie wandern.
Keine Erinnerungen, denke ich und spüre einen bitteren Kloß in der Kehle. Plötzlich wünsche ich mir, weit weg von der Hütte zu sein, irgendwo anders auf dieser Welt, die sich weitergedreht hat. Vielleicht in Devon, in einer der Bars am Stadtrand, die einen üblen Ruf genießen, jetzt aber genau der richtige Ort für mich wären. Seltsamerweise sehe ich mich in Gedanken in einer schummrigen Ecke sitzen, das Gesicht in Schatten gehüllt, während der Schein einer roten Laterne über meine Hände auf dem Tisch streichelt und die Whiskeyflasche in ihnen in goldenen Glanz hüllt. Sogar die von Zigaretten und Schweiß geschwängerte Luft kann ich riechen. Verdammt, ich beginne den Verstand zu verlieren. Wie kann ich an eine dreckige Spelunke denken, während der einzige Ort auf der Welt, an dem ich jetzt sein möchte, Sarahs Schlafzimmer ist?
Doch an sie will ich nicht denken.
Nicht an diesem Ort.
Wie oft sind wir die Holzstufen zur Ladentür hinaufgestiegen. Lachend, Hand in Hand. Und mit Murphys braunen Lebensmitteltüten sind wir wieder hinuntergestiegen, den Geschmack von heißem Tee auf der Zunge und Murphys abgenutzte Geschichten im Ohr, die er uns jedes Mal erzählte, meist etwas anders als beim letzten Mal, in der Hoffnung, wir würden es nicht bemerken. Sarah trägt ihren beigefarbenen Mantel und ...
»Murphy!«
Meine Stimme erscheint mir wie das Schreien eines Ungetüms in einem kleinen Raum. Erschrocken ducke ich mich und beobachte den Waldrand hinter dem Haus. Die Dunkelheit zwischen den schwarzen Stämmen dräut wie eine mahnende Wand. Ich bilde mir ein, Schatten darin zu erkennen, die flink zwischen Büschen und Stämmen hin und her huschen.
»Murphy! Ich bin es ... Harv!«
Diesmal rufe ich etwas leiser. Meine Hände legen sich hart um den Gewehrkolben. In Gedanken schweife ich zur finsteren Front der Bäume hinter dem Laden zurück. Kein Vogel ist zu hören. Kein Zweig knackt unter dem Gewicht eines Hufes, nichts raschelt in den Gräsern und Büschen. Irgendjemand hat den Stecker der Welt herausgezogen. Der Wald wirkt bedrohlich, als würden sich all die finsteren und verderbten Schatten der Hölle hinter der Blockhütte auftürmen.
Als ich zum Obergeschoss blicke, glaube ich schwachen Lichtschein zwischen den Ritzen eines der Holzläden flackern zu sehen. Ich starre auf das graue, morsche Holz, als könnte ich durch pure Anstrengung in den dahinterliegenden Raum sehen.
»Verdammt, Murphy ...«
Meine Worte werden von kaltem Schrecken erstickt, der sich auf mich stürzt, als etwas Glänzendes zwischen den Holzläden erscheint und das trübe Licht des Tages reflektiert. Der Fensterladen wird ein kleines Stück auseinandergedrückt und ein Schatten verdeckt das flackernde Licht dahinter. Unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück.
»Was willst du, Harv?«, brüllt Murphy. Erst jetzt erkenne ich in der blinkenden Reflektion den Lauf eines Gewehrs, der offensichtlich auf mich gerichtet ist.
Noch nie in meinem Leben hat jemand mit einer Waffe auf mich gezielt. Im Krieg hatte ich im Lazarett gedient, so waren mir die einschneidenden Entscheidungen über Töten und Getötet werden erspart geblieben. Unterhalb meiner Gürtellinie zieht sich der Rest meines Körpers zu einem kleinen, kalten Eisklumpen zusammen.
»Ich wollte sehen, wie es dir geht!«, schreie ich zurück. Meine Stimme erscheint mir etwas zu hoch. Fast so schrill wie die eines aufgeregten Mädchens.
Der Lauf der Waffe bleibt beharrlich auf mich gerichtet.
»Verflucht, nimm das Gewehr runter!«, rufe ich. So sehr ich mich auch bemühe, es gelingt mir nicht, meiner Stimme ihren gewohnt festen, leicht
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