Graues Land (German Edition)
kauern. Irgendwann kann ich den geschlossenen Holzladen von Murphys Zimmer nur noch als schwarzen Fleck erkennen. Selbst das flackernde Kerzenlicht ist erloschen. Plötzlich hat die Blockhütte jegliches Leben verloren, erscheint genauso verlassen wie ich sie vorgefunden habe.
Habe ich mir das Gespräch mit Murphy etwa nur eingebildet?
Das Zittern meiner Knie und die Eiseskälte in meinem Magen überzeugen mich vom Gegenteil. Ich frage mich, was überwiegt: Die Angst davor, dass mein alter Freund vielleicht doch noch auf den Gedanken kommt, mir, dem »Harv-Ding«, eine Ladung Schrot zu verpassen, oder die schmerzende Gewissheit, dass eine jahrzehntealte, wunderbare und erinnerungsgeladene Freundschaft an diesem Morgen geendet hat?
Als ich meinen Pick-up erreiche, bleibe ich stehen und lehne mich mit dem Rücken gegen das kalte Blech des Wagens. Mein Gewehr hängt kraftlos an der Seite herab.
Dort unten, wo der alte, verrostete Ford auf dem Parkplatz steht und welke Blätter seine Reifen umschmeicheln, wo sich die von unzähligen Jahren und Schuhen ausgetretene Holzveranda befindet, auf der ich so manches Mal mit Sarah, Murphy und Audrey bei einem Glas kalter Limonade gesessen habe, und wo sich ein Mensch, auf dessen Freundschaft und Loyalität ich mich fast mein halbes Leben lang verlassen konnte, in der Einsamkeit seines Zimmers zum Sterben niedergelegt hat ... dort unten befinden sich nur noch tiefe, schweigende Schatten. Das Gefühl, auf ein altes, verwittertes Grab zu blicken, überrollt mich, wie die nächtliche Brandung eines finsteren Meeres.
Als ich in den Wagen steige, empfangen mich Kälte und Stille. Ich lege das Gewehr auf den Beifahrersitz zurück, drehte den Schlüssel und warte, bis der Motor stotternd zum Leben erwacht.
Ohne einen weiteren Blick auf den leblosen, in tiefer Dunkelheit liegenden Parkplatz der Blockhütte zu werfen, wende ich den Pick-up und fahre langsam die Straße zurück, hinauf in die Hügel.
Mit ausdruckslosen Augen starre ich durch die mit Fliegen und Schmutzschlieren verdreckte Scheibe, stütze mich auf der Armlehne der Fahrertür ab, und versuche, mich aus den grausamen Fängen dieses Traumes zu befreien. Als mir das nicht gelingen will, beginne ich zu weinen. Tränen, die salzig auf meinen Lippen schmecken, lassen die Landschaft ringsum zu einem verwaschenen Grau verschwimmen.
Ich weine um Murphy und um die alten Tage mit ihm, die heute Morgen geendet haben.
Und ich weine um mich selbst.
Denn was soll ein alter, sturer Narr wie ich, in einer Welt, die vor die Hunde gegangen ist , wie sich Murphy ausdrückte, noch anfangen?
Was habe ich in dieser Welt noch zu suchen? Einer grauen, stillen Welt, die sich weitergedreht hat ...
Humphrey
I
Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause gekommen bin.
Als ich von Murphys Laden wegfuhr, hatte sich die Welt um mich herum in einen Strudel aus grauen und schwarzen Schatten verwandelt, der schleiergleich an mir vorbeigezogen ist. Alles erschien so unwirklich. Als würde ich mir einen schlechten Film ohne Handlung und Sinn anschauen. Das Gefühl, mich in einer Welt zu bewegen, die sich eine krankhafte Phantasie ersonnen hatte, war so stark geworden, dass mein Herz zu rasen begann und mein hektischer Atem die Windschutzscheibe beschlug.
Während sich der Pick-up quietschend und klappernd die Hügel hinaufquälte, habe ich mir einzureden versucht, dass ich in einem besonders intensiven und bösartigen Traum gefangen bin. Eine andere Erklärung wollte mir einfach nicht einfallen. Oder besser gesagt, ich wollte keine andere Erklärung akzeptieren.
Ich habe schon früher eine blühende Phantasie besessen und mich oftmals in Träumen wiedergefunden, deren Grenzen zur Realität ich selbst nach dem Erwachen nicht definieren konnte.
Scheinbar war ich im Begriff, in einem brodelnden Sumpf aus Furcht zu versinken, der tief unter der Oberfläche meines Bewusstseins brandete, und lief Gefahr, den letzten Rest von Verstand zu verlieren, den ich mir zu bewahren versucht habe. Mit Gedanken, die sich gegenseitig jagen und zu schnell sind, um von meinem Bewusstsein noch als real registriert zu werden, sitze ich nun in meinem zerschlissenen Sessel im Wohnzimmer und starre auf den dunklen Fernsehschirm. Es ist still ringsum. Nur das gleichmäßige, monotone Ticken der Uhr ist zu hören.
Ich kann mein Spiegelbild auf der Mattscheibe erkennen. Ein alter Mann. Ein grauer Mann, dessen Gesicht eingefallen und zerfurcht erscheint. Meine Arme liegen auf
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