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Graues Land (German Edition)

Graues Land (German Edition)

Titel: Graues Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Dissieux
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und erst wieder aufwachen, wenn alles vorüber ist. Die Augen aufmachen und in grellen Sonnenschein blinzeln. Den Duft einer frisch gemähten Wiese und kühler Erde einatmen. Das beruhigende, unbeschwerte Singen der Vögel im Garten hören. Mich einfach aus dem schrecklichen Traum befreien, der wie eine Flutwelle über mich gekommen ist und Dreck, Gestank und Stille mit sich brachte. Plötzlich verfluche ich mich dafür, dass ich so alt geworden bin.
    Verdammt, ich habe mein Leben gelebt und kann mich nicht beklagen. Ich habe eine tolle Frau gehabt und ein ebenso tolles Leben in den Hügeln über Devon geführt. Warum also konnte ich nicht vor etwa zehn Tagen einfach einen Herzstillstand erleiden und die Erinnerung an die Welt und mein Leben so mit ins Grab nehmen, wie ich beides gewohnt war? Aus welchem Grund musste ich mit ansehen, wie all das, was ich fast siebzig Jahre lang geliebt und gekannt hatte, von einer Minute auf die andere in sich zusammenfiel und nur schwarze, rauchende Ruinen zurückblieben? War das eine weitere von Gottes Prüfungen? Hatte die Geschichte mit Sarah nicht genügt?
    Mein Blick geht kurz zur Decke, wie immer, wenn ich ein paar Worte mit Gott wechsele oder wer auch immer mir zuhören mag. Dann starre ich wieder mein trauriges Spiegelbild im Fernseher an.
    Keine weiteren Erinnerungen, denke ich mir, als plötzlich Sarahs Antlitz auf der Mattscheibe erscheint. Nicht das kranke und abwesende Gesicht jener Sarah, die oben im Bett liegt und wahrscheinlich leise schnarcht, traumlos, mit einem dünnen Speichelfaden, der ihr aus dem Mundwinkel läuft. Nein, ich sehe eine junge, lebendige Version von Sarah, so wie sie war, als wir all jene Dinge unternommen haben, an die ich zuvor gedacht habe. Die strahlenden, blauen Seen, in denen ich schwimmen lernte, das unschuldige Lächeln, das mir einst die Sinne raubte ...
    Das Antlitz der jungen Frau im Fernseher verschwimmt, als sich meine Augen mit Tränen füllen. Ich wische sie fahrig mit dem Handrücken weg, und als ich wieder zum Fernseher blicke, ist Sarah verschwunden. Ich flüstere ihren Namen. Zumindest bewegt der graue, alte Mann im Fernsehen seine Lippen. Doch er bringt keinen Ton heraus.
    Ich lasse mich wieder in den Sessel sinken und starre auf den farblosen Stoff meiner Hose. Sie ist alt und die Nähte zerrissen. Doch sie war stets meine Lieblingshose, und ich trug sie meistens an jenen Tagen, an denen ich das Haus nicht verlassen musste und den Tag mit Sarah verbringen konnte.
    So will ich es auch heute tun.
    Dieser graue Mann im Fernseher macht mir Angst. Weil er mir so verdammt ähnlich sieht. Und die Gedanken, die seinen Verstand an den Rand eines stinkenden Morastes führen, gefallen mir ganz und gar nicht.
    Als ich aufstehe, verschwindet der graue Mann aus dem Bildschirm und das Abbild eines leeren Sessels bleibt zurück. Ich gehe hinaus in den Flur und blicke zur Treppe, die nach oben führt. Doch dann drehe ich mich noch einmal um und sehe den Fernseher an, jenes nutzlos gewordene Gerät, durch dessen Nachrichten der Untergang der Welt erst angefangen hat. Als ich den schwarzen Bildschirm betrachte, stiehlt sich plötzlich ein Gedanke in den Sturm aus Empfindungen und Ängsten in meinem Kopf, der mir so verlockend und unbeschwert erscheint, dass ich mich ihm widerstandslos hingebe. Zum ersten Mal seit Tagen spüre ich so etwas wie Leben durch meinen Körper fließen.
    Am Ende des Flures, hinter der Treppe, befindet sich eine schmale, braune Tür, die ich seit fast zwei Jahren nicht mehr geöffnet habe. So schnell es mir meine alten Beine gestatten, laufe ich zu ihr und drehe den kalten, verstaubten Messingknauf.
    In all der Zeit, die wir hier in den Hügeln leben, habe ich stets alte Möbel und Kisten in dem kleinen Raum hinter der Tür verstaut, sodass mich ein kleines Museum der Erinnerungen empfängt, als ich den Raum mit einer dicken Kerze erhelle. Direkt am Eingang stellt sich mir ein altertümlicher, sperriger Schrank in den Weg, den Sarah zu Beginn unserer Ehe mit ins Haus gebracht hatte. Bizarre Teufelsfratzen starren mir entgegen. Eine der Türen hängt schief in ihrer Verschraubung. Spinnweben schweben wie zarte Schleier zwischen den einzelnen Dämonenfratzen. Im Schein der flackernden Kerze glaube ich für einen Augenblick so etwas wie Leben in den geschnitzten Augen der Figuren zu sehen.
    »Du wirst wirklich alt, du verdammter Narr«, flüstere ich leise und gehe um den Schrank herum.
    Aus den Schatten dahinter schälen

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