Graues Land (German Edition)
sich zahlreiche Kisten und Körbe mit altmodischer Wäsche und verstaubten Porzellanfiguren. Seltsamerweise erinnere ich mich an jedes Teil und daran, wie ich im Laufe der Jahre eines nach dem anderen hier drin verstaut habe. Das, was ich suche, finde ich in der hintersten Ecke, unter einem Stapel nach Moder und Staub riechender Wolldecken.
Die alte Seemannskiste hatte Sarah mit in unseren gemeinsamen Haushalt gebracht. Es war ein Erinnerungsstück an ihren Urgroßvater, der um 1890 herum zur See gefahren und in dieser Kiste all seine Habseligkeiten aufbewahrt hatte. Ich kann mich heute nicht mehr an den Namen des Mannes erinnern, obwohl mir Sarah so oft von ihm erzählt hat. Ein klein wenig schäme ich mich dafür. Doch erinnere ich mich noch sehr gut ihrer leuchtenden Augen, wenn sie von dem alten Seebären schwärmte, und ich denke, sich an die Augen seiner Freundin zu erinnern, ist einiges mehr wert, als den Namen eines Mannes zu wissen, den man persönlich nie kennengelernt hat.
Sarah hatte ihren Urgroßvater noch gekannt.
Sie hat mir an den Abenden, wenn wir in unserem neu gebauten Haus am Kamin gesessen und Tee getrunken haben, oft davon erzählt, wie sie als kleines Mädchen auf dem Schoß des grobschlächtigen Mannes gesessen und begeistert dessen Seemannsgeschichten gelauscht hatte. Aus diesem Grund wollte sie sich nie von der alten, zerschlissenen Truhe trennen, auch wenn die Schlösser nicht mehr zu verschließen und die rostigen Scharniere locker waren. Für sie bedeutete die Kiste das Liebste, das sie jemals besessen hat, wie mir Sarah oft mit einem zarten Kuss und unschuldigem Augenaufschlag erzählte. Wie hätte ich verliebter Romeo ihrem Drängen, die Truhe mit in unser Haus zu bringen, jemals etwas entgegensetzen sollen?
Schnell habe ich die Decken zur Seite geräumt. Ich stelle die Kerze auf einem Stapel alter Bücher ab und beginne die Kiste aus der Ecke herauszuziehen. Es knirscht, als die Eisenfüße über den staubigen Boden reiben.
Als ich sie bis zur Tür gezogen habe und mich aufrichte, spüre ich überdeutlich, dass ich wirklich kein junger Mann mehr bin. Mein Atem geht schnell und schmerzt in der Brust.
Ich warte, dass sich mein Körper etwas beruhigt und lehne mich gegen den gewaltigen Eichenschrank mit den Teufelsfratzen, der den Rest des Raumes wie eine Wand von mir abtrennt. Dabei lasse ich meinen Blick über all die Dinge wandern, die mir und Sarah einmal so viel bedeutet haben. All die Bücher, Schränkchen und Figuren liegen nun in der Stille der Kammer unter einer grauen Staubschicht verborgen und harren darauf, dass ein einsamer Narr kommt, um sich ihrer zu erinnern.
Als sich mein Atem wieder beruhigt hat, nehme ich die Kerze, stelle sie vor die Truhe und beginne die eisernen Beschläge zu öffnen. Absperren konnte Sarah die Truhe natürlich nie, obwohl sie die Schlüssel dafür in einer kleinen Schatulle bei ihren Ohrringen aufbewahrte. Eines der Schlösser klemmt dennoch etwas, da sie seit Sarahs Krankheit nicht mehr geöffnet worden sind. Doch dann gibt das schwarz angelaufene Metall nach und ich kann den Deckel knarrend öffnen. Das Geräusch kommt mir im ersten Augenblick wie das nächtliche Heulen eines Shoggothen vor.
Während ich mir eine Hand ins Kreuz drücke, um die Schmerzen zu besänftigen, betrachte ich die Sachen, die Sarah und ich im Laufe unseres Lebens in der Truhe deponiert haben. Alte Kleider von Sarah, von denen sie sich nie trennen wollte, da sie diese bei unseren ersten Verabredungen getragen hatte und ihnen dadurch »etwas Magisches anhaftet« , wie sie mir oft glaubhaft versicherte, wenn ich sie auf ihren Sammeltick angesprochen habe.
Einige Bücher befinden sich in der Kiste, die es wert waren, nicht einfach dem Staub der Kammer überlassen zu werden und die für uns beide eine eigene Bedeutung besaßen. »Der alte Mann und das Meer« von Hemingway fällt mir ins Auge. In Bezug auf das Leben ihres Urgroßvaters natürlich ein Lieblingsbuch von Sarah. Zudem war es das erste Buch, das mir Sarah bei unserer zweiten Verabredung ausgeliehen hatte, damit ich ihre Begeisterung für das Seemannsleben teilen konnte. Das hat mir damals viel bedeutet, auch wenn mir das Buch nicht in dem Maße gefiel, wie ich es Sarah gegenüber angedeutet hatte. Es war vielmehr die Tatsache, dass sie mir bei unserer zweiten Verabredung bereits derart viel Vertrauen entgegenbrachte, dass sie mir ein für sie überaus wertvolles Buch anvertraute.
Ich nehme das Buch aus der
Weitere Kostenlose Bücher