Grave Mercy Die Novizin des Todes
um Atem ringen lassen kann.
»Kennt Ihr irgendwelche Geschichten?«, fragt sie, während ich mich wieder auf dem Stuhl niederlasse.
Ich hasse es, sie zu enttäuschen, aber ich habe keine Geschichten. Zu Hause hat niemand welche erzählt, als ich heranwuchs, und die Geschichten, die im Kloster erzählt wurden, sind nicht für so junge, unschuldige Ohren gedacht. Gerade als ich anfange, den Kopf zu schütteln, erinnere ich mich an eine Geschichte. Eine von Annith’ Lieblingsgeschichten. Vielleicht wird Isabeau ein wenig Trost daraus schöpfen. »Habt Ihr die Geschichte gehört, wie die heilige Amourna das Herz des heiligen Mortain erobert hat?«
Isabeaus Augen weiten sich. »Des Schutzheiligen des Todes?«, flüstert sie.
»Es ist keine beängstigende Geschichte, das verspreche ich Euch, sondern eine von wahrer Liebe.«
»Oh.« Ihre Züge entspannen sich. »Dann ist es gut. Ich würde sie gern hören, bitte.«
»In einer schönen, mondhellen Nacht ritten Mortain und seine wilde Jagd durchs Land, als sie zwei Mädchen entdeckten, die schöner waren als alle, die sie je zuvor gesehen hatten. Sie pflückten Nachtkerzen, die nur im Mondlicht erblühen.
Die beiden Mädchen entpuppten sich als Amourna und Arduinna, die Zwillingstöchter von Dea Matrona. Als Mortain die schöne Amourna sah, verliebte er sich sofort in sie, denn sie war nicht nur hübsch, sondern besaß auch ein fröhliches Herz, und gewiss braucht der Gott des Todes Fröhlichkeit in seiner Welt.
Aber die beiden Schwestern waren grundverschieden, sie hätten sich nicht mehr voneinander unterscheiden können. Amourna war glücklich und freigiebig, ihre Schwester Arduinna jedoch war leidenschaftlich, eifersüchtig und argwöhnisch, denn dies sind die zwei Seiten der Liebe. Arduinna war von einem wilden und vereinnahmenden Wesen, und es gefiel ihr nicht, wie Mortain ihre geliebte Schwester ansah. Um ihn zu warnen, zog sie ihren Bogen und ließ einen ihrer silbernen Pfeile fliegen. Sie verfehlt niemals ihr Ziel, und sie hat es auch da nicht verfehlt. Der Pfeil durchstach Mortains Herz, aber niemand, nicht einmal eine Göttin, kann den Gott des Todes töten.
Mortain pflückte den Pfeil aus seiner Brust und verneigte sich vor Arduinna. ›Danke‹, sagte er. ›Dafür, dass Ihr mich daran erinnert, dass Liebe immer ihren Preis hat.‹
Solche Galanterie überraschte Arduinna, und am Ende ließ sie ihre Schwester mit dem Gott des Todes zu seinem Heim reiten, aber erst nachdem Amourna versprochen hatte, dass sie mindestens einmal im Jahr zurückkommen und ihre Zwillingsschwester besuchen werde.«
»Hatte sie keine Angst«, fragt Isabeau, deren Stimme nicht mehr ist als ein Flüstern, »mit dem Tod zu gehen?«
»Nein.« Ich beuge mich vor und streiche ihr das Haar hinters Ohr. »Denn der Tod ist nicht böse oder beängstigend oder auch nur unbarmherzig; er ist einfach tot. Außerdem hat Sein Reich sehr viel eigene Schönheit. Es gibt keinen Hunger, keine Kälte und keinen Schmerz. Und auch keine ekligen Blutegel.« Diese letzte Bemerkung entlockt Isabeau ein Lächeln.
»Was meint Ihr, ist sie dort glücklich?«
»Ja.« Ich erzähle Isabeau den Rest der Geschichte nicht, wie Arduinna so eifersüchtig wurde, dass sie schwor, dass die Liebe von diesem Zeitpunkt an immer Schmerz bringen solle. Oder dass Dea Matrona so bekümmert über den Verlust ihrer Tochter war, dass sie bittere Winter in unser Land schickte.
Gegen Ende der Geschichte hat die Medizin zu wirken begonnen, und die Lider des kleinen Mädchens schließen sich flatternd. Ihre Brust hebt und senkt sich mühelos, und ihr Atem geht nicht länger gequält. Vielleicht mache ich mir selbst etwas vor, aber sie wirkt friedlicher. Wenn ich Madame Dinan auch nur im Geringsten vertraute, würde ich etwas von der Medizin bei ihr lassen, aber das tue ich nicht. Wenn ich nur Huflattich oder Ysop hätte. Selbst Schwarzwurz oder Melisse würden helfen, aber alles, was ich habe, ist Gift, und es widerstrebt mir, es der Gouvernante des Mädchens zu geben.
In der Stille des Raumes höre ich, dass das gedämpfte Gemurmel erhobener Stimmen im Nebenzimmer plötzlich abebbt, dann wird eine Tür aufgerissen. Ich erhebe mich leise und gehe in den Wintergarten, wobei ich die Tür zu Isabeaus Zimmer hinter mir schließe.
Anne kommt mit weißem Gesicht in ihr Vorzimmer stolziert. Duval stürmt hinter ihr her. »Wie kann sie es wagen?«, explodiert er.
Bei diesem Wutausbruch eile ich auf ihn zu und lege den Finger an
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