Grave Mercy Die Novizin des Todes
entfernen und es doch nicht zu tun. Was ist, wenn sie denken, ich sei gegangen, obwohl ich geblieben bin?«
»Ihr meint, Ihr wollt Euch maskieren? Gewiss ist Euer Gesicht zu gut bekannt …«
»Nein. Ich werde mich vor ihren Nasen verstecken.« Duval dreht sich um, um den Kamin anzustarren. Genauer gesagt die Wand hinter dem Kamin. »In der Burg gibt es eine Anzahl versteckter Gänge. In einem Land, das wie unseres so oft im Krieg ist, haben die herzöglichen Paläste immer Fluchtwege, die aus der Burg hinausführen.«
»Ihr würdet in diesen Tunneln und Fluren leben?«
Er zuckt die Achseln. »Es kann nicht schlimmer sein, als eingekerkert zu werden. Und es wird mir eine Chance geben, die Übereinkunft mit Herrn Dortmund abzuschließen, dem Gesandten des Heiligen Römischen Reiches: Und ich werde ihn mit einem unterschriebenen Kontrakt auf den Weg schicken können. Ich fürchte, das ist Annes letzte Chance, wenn sie nicht in den Armen entweder der Franzosen oder d ’ Albrets enden will.«
»Aber werdet Ihr nicht die Unterschriften der Mitglieder des Kronrats benötigen?«
»Ich werde sie fälschen. Dies ist ohnehin nur eine vorläufige Übereinkunft. Wenn das endgültige Dokument fertig ist, wird Anne hoffentlich gekrönt sein und kann selbst rechtskräftig handeln.«
Es ist ein verzweifelter Plan, aber der einzige, der uns offensteht. Wir verbringen die nächsten Stunden damit, die Einzelheiten auszuarbeiten, und versuchen, all die Hindernisse vorherzusehen, die unsere Strategie ruinieren könnten.
Duval wird fortfahren, jede Nacht mein Zimmer aufzusuchen. Er glaubt nicht, dass der Rat so weit gehen wird, Wachposten vor der Tür meines Schlafgemachs aufzustellen. Ich bin mir da nicht so sicher.
Während er sich versteckt, werde ich so tun, als blase ich Trübsal, und ich werde darum bitten, mir meine Mahlzeiten auf mein Zimmer zu schicken, was es leicht machen wird, Essen für ihn beiseitezulegen.
»Was soll ich den anderen erzählen, wenn sie mich fragen, wohin Ihr gegangen seid? Denn zumindest Crunard wird mich gewiss fragen.«
»Sagt Ihnen einfach die Wahrheit: Dass Ihr nicht wisst, wo ich bin. Denn Ihr werdet es nicht wissen. Ich könnte überall in der Burg sein, ich könnte sie sogar verlassen, und niemand – Ihr eingeschlossen – wird wissen, wohin ich gegangen bin.«
»Und die Herzogin? Was wird sie denken, wenn Ihr verschwindet?«
»Die Gänge führen in die herrschaftlichen Schlafgemächer. Ich sollte in der Lage sein, sie zu erreichen. Aber es würde nicht schaden, wenn Ihr ihr ebenfalls eine Nachricht überbringen würdet.«
»Was soll ich ihr sagen?«
Er schaut wieder auf das Schachbrett hinab. »Sagt ihr, dass wir nicht länger wissen, wem sie trauen kann. Wir werden sie auf dem Laufenden halten, wenn wir mehr erfahren.« Er blickt zum Fenster, dann zurück zu mir. »Ich muss einige Vorkehrungen treffen, bevor ich gehe.«
Wir sind einander nahe genug, um uns zu küssen, und für einen langen Moment, in dem mir das Herz stehen bleibt, denke ich, er wird genau das tun. Stattdessen streicht er mir mit dem Handrücken über die Wange. »Dann bis irgendwann morgen Nacht.«
Ich schaudere. »Bis morgen.«
Er wendet sich zum Gehen, dann hält er inne und reißt die weiße Königin vom Brett, bevor er die Finger darum schließt, als wolle er sie beschützen.
Es ist keine Überraschung, dass ich in dieser Nacht nicht schlafen kann. Ich liege wach und denke an Duval, der wie eine in einer Mauer gefangene Ratte durch die verborgenen Tunnel der Burg kriecht. Ich denke an die Herzogin, die jeder Einzelne der Vormunde, die ihr Vater für sie ernannt hat, im Stich gelassen hat. Aber vor allem denke ich an den Rat, an Kanzler Crunard und Marschall Rieux, und ich frage mich, wer die Wahrheit sagt und wer lügt.
Neununddreißig
ALS ICH AM NÄCHSTEN Morgen die Vorhänge beiseiteziehe, langen die eisigen Finger des Winters durch das Glas und zwicken mich wach. Die Jahreszeit Mortains hat uns erreicht, und alles ist kalt und kahl und grau.
Hinter mir wird die Tür geöffnet, und Louyse kommt geschäftig herein. »Demoiselle! Kommt weg von dort, bevor Ihr Euch den Tod holt!«
Ihre Worte bringen ein Lächeln auf meine Lippen. Denkt sie, der Tod sei ein kleiner Vogel, auf dem mein Name geschrieben steht und der gegen das Fenster klopft in der Hoffnung, dass ich ihn mir holen werde? »Etwas Zurückhaltendes«, sage ich zu Louyse, als sie auf den Kleiderschrank zugeht. »Ich bin heute in gedrückter
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