Grave Mercy Die Novizin des Todes
ist das andere Mädchen?«
Ich bin länger geblieben, als ich willkommen war. »Sie hatte unten zu tun und hat mich gebeten heraufzugehen.«
Noch während er mit seinen trüben Augen meinen Reiseumhang mustert, bewege ich mich in Richtung Tür. Ich will weg sein, bevor sein vom Wein getrübter Geist beginnt, irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen.
»Warte!«, ruft er, und ich erstarre. Mir schlägt das Herz bis zum Hals.
»Lass den Krug hier«, befiehlt er.
Ich senke den Blick und stelle fest, dass ich noch immer den Krug in der Hand halte. Unvorsichtig! »Aber natürlich, Monsieur«, erwidere ich, dann stelle ich den Krug neben ihn auf den Boden. Ich wage einen Blick unter meinen Wimpern hervor, aber er hat sich wieder dem Feuer zugewandt.
An der Tür halte ich ein letztes Mal inne und warte; er nimmt noch einen Schluck von dem Wein, dann den nächsten. Ich bekreuzige mich, senke den Kopf und empfehle die Seele des Verräters Mortains Obhut. Als ich die Tür erreiche, wird sie aufgerissen. Eine massige Gestalt steht im Rahmen, das Fackellicht aus dem Flur zeichnet die Umrisse des Mannes nach. Er hat seine Kapuze noch immer ums Gesicht gezogen, aber ich erkenne die gewaltige Gestalt Hervés.
Merde! Hätte er nicht warten können, bis ich wieder nach unten gekommen wäre?
Ich trete von der Tür weg und werfe einen Blick über die Schulter, um die Entfernung zum Fenster abzuschätzen. Hervé folgt meinem Blick und flucht, als er Runnion sieht, der den Anschein erweckt, als sei er in weinseligen Schlummer gesunken. Während Hervé an Runnions Seite eilt, nutze ich die Chance, die Mortain mir bietet, und renne aufs Fenster zu.
Es ist ein langer Ritt zurück ins Kloster, aber mein Triumphgefühl hält mich warm. Ich will in den Himmel jauchzen, dass ich meinem Gott und meinem Kloster gut gedient habe, aber Schwester Serafina hat mir viele Male eingeschärft, dass Stolz eine Sünde sei, also tue ich es nicht.
Außerdem würde es mein Pferd erschrecken. Ich beuge mich vor und tätschele Nocturnes Hals, nur für den Fall, dass mein Jubel ihr Unbehagen bereitet.
Der eine Wermutstropfen in meinem Triumph ist der Bauerntölpel, der die Treppe hinaufgekommen ist. Ein Teil von mir wünscht, ich wäre geblieben, um mit ihm zu kämpfen, hätte meine Fähigkeiten gegen seine erprobt, denn gewiss wäre er für jemanden mit meiner Ausbildung kein ebenbürtiger Gegner. Wir dürfen in Selbstverteidigung töten, ob der Gegner nun ein Todesmal trägt oder nicht, und ich hätte mich für seine anmaßende Grapscherei rächen können.
Allerdings ist der eigentliche Sinn dieses ersten Auftrags die Demonstration meines Gehorsams, daher denke ich, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist, mich davonzumachen.
Der Rausch des Erfolgs summt durch meine Adern, als ich beim Seemann ankomme – demselben, der mich zum Kloster gerudert hat, als ich hier ankam. Heute Nacht nimmt er Nocturne in seine Obhut und lässt seinen Sohn – der fast so betagt ist wie er selbst – das Pferd in die Ställe zurückbringen. Als ich in das wartende Boot klettere, wendet er seinen Blick ab, als habe er Angst, dass er, wenn er mich zu lange anschaut, vielleicht erfahren würde, was ich getrieben habe.
Ich kann es gar nicht erwarten, meinen Erfolg der ehrwürdigen Mutter zu melden. Ich will ihr beweisen, dass sie recht damit hatte, mich aufzunehmen, dass sie eine kluge Entscheidung getroffen hat, als sie mir ein Heim anbot. Ich will ihr zeigen, dass ich ihre Prüfung bestanden habe.
Dass ich Annith vorgezogen wurde, erfüllt mich mit Freude, auch wenn mein Herz mit ihr weint. Sybella war bereits mit vielen Aufträgen unterwegs, daher weiß ich, wie es sich anfühlt, zurückgelassen zu werden. Aber vielleicht hat die Äbtissin eine besondere Fähigkeit oder ein Funkeln in mir gesehen, etwas, das mich heller leuchten lässt als Annith und die anderen.
Das Boot fährt knirschend auf den steinigen Strand, und ich steige aus und tue mein Bestes, mein feines Gewand aus der Brandung herauszuhalten. »Danke«, sage ich; ich winke dem Seemann zum Abschied zu, aber er rudert bereits wieder aufs Meer hinaus.
Voller Eifer, der Äbtissin meinen Bericht zu erstatten, eile ich auf das Kloster zu. Als ich an der Steinstele vorbeikomme, küsse ich meine Fingerspitzen und drücke sie auf die kalte, raue Oberfläche, ein schnelles Gebet des Dankes an Mortain, dass er meine Hand geführt hat.
Die Sonne beginnt gerade aufzugehen, aber die Hühner scharren bereits
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