Grave Mercy Die Novizin des Todes
für Annith wie ein Schlag ins Gesicht sein. Annith’ Wangen röten sich. »Ich versichere dir, das tun wir auch nicht. Setz dich doch hin, wo du willst, und verhungere meinetwegen.« Es ist das erste Mal, dass ich erlebe, wie Annith wütend wird.
Sybella ignoriert es; sie sitzt da und starrt an die Wand, während wir Übrigen unser Abendessen verzehren. Mit ihrem Verhalten erreicht sie, dass den Mädchen der Appetit vergeht, nur mir nicht. Da ich jahrelang nur Rüben gegessen habe – und noch dazu alte, verfaulte –, habe ich immer Hunger.
Als dies einige Minuten so gegangen ist, erhebt sich Schwester Widona vom Haupttisch, geht zum Eintopfkessel, der über der Herdstelle hängt, und löffelt eine Portion in eine Schale. Sie bringt sie an unseren Tisch und stellt sie Sybella hin. »Iss«, befiehlt sie. Sybella schaut auf, und das Kräftemessen ihrer Blicke ist beinahe spürbar.
Als Sybella keine Anstalten macht, ihre Schale zu sich heranzuziehen, beugt Schwester Widona sich vor und spricht leise in das Ohr des Mädchens. »Iss, oder ich flöße es dir mit Gewalt ein.«
Ihre Worte schockieren mich, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass diese sanften Nonnen etwas so Gewalttätiges tun, aber die Drohung wirkt. Sybella starrt die Nonne störrisch an, beginnt jedoch, den Eintopf in sich hineinzulöffeln. Zufriedengestellt kehrt die Nonne auf das Podest zurück.
Und so beginnt unsere Ausbildung im Kloster, und alles, was die Nonnen Sybella und mir an jenem ersten Abend versprochen haben, wird wahr. Wir studieren den menschlichen Körper so gründlich wie die Ärzte an den großen Universitäten, brüten über Zeichnungen der menschlichen Anatomie, die uns die Röte in die Wangen treiben. Aber trotz unserer Keuschheit lernen wir, wo sich die schwächsten Teile des Körpers verbergen. Wie Haut am Muskel befestigt ist, Muskeln an Sehnen und Knochen und wie diese Verbindungen am besten durchtrennt werden können.
Wir werden vertraut gemacht mit allen möglichen Kampfarten, wie wir unsere Hände und Füße, unsere Ellbogen, sogar unsere Zähne einsetzen können. Man unterrichtet uns an jeder nur denkbaren Waffe: an Messern und Dolchen, an Würgschlingen. Wir üben mit Wurfscheiben, eine Art kleiner runder Tellerchen mit rasiermesserscharfen Kanten, bis wir unsere Zielscheiben akkurat treffen. Wir schießen mit kurzen Bögen und mit Langbögen, sofern wir sie spannen können. Wenn nicht, werden wir so lange angehalten, unsere Arme zu stärken, bis wir es können. Armbrüste sind ebenfalls Teil unserer Ausbildung, denn sie sind höchst treffsicher, wenn man aus einiger Entfernung töten muss.
Wo ich wahrhafte Höchstleistungen erbringe, ist im Labor von Schwester Serafina, beim Einweichen und Dämpfen, beim Pressen und Destillieren. Ich studiere die Natur all der tödlichen Substanzen und lerne, wie man ihr Gift am besten gewinnt und sie für die erwünschte Wirkung kombiniert.
Aber natürlich sind nicht alle Lektionen so faszinierend. Es gibt zähe Stunden, die wir damit verbringen, Geschichte und Politik zu lernen und uns die adligen Familien der Bretagne einzuprägen. Wir studieren auch die königlichen Häuser von Frankreich, denn den Nonnen zufolge stellt Frankreich die größte Bedrohung für die Unabhängigkeit unseres Landes dar. Vor allem, da unser Herzog sich mit anderen Edelleuten zusammengetan hat, um den französischen Regenten zu stürzen. Die Tat ist nicht ungeahndet geblieben, und einmal mehr sind Feindseligkeiten zwischen unseren Ländern ausgebrochen.
Wir Novizinnen müssen außerdem lernen, uns in feine Gewänder zu kleiden und uns in ihnen zu bewegen, ohne zu stolpern. Wir üben uns darin, rätselhaft zu lächeln, und werden Meisterinnen des verführerischen Blicks; wir schauen unter unseren Wimpern hervor, unsere Augen voller Versprechungen. Bei diesen speziellen Lektionen komme ich mir so lächerlich vor, dass ich oft lospruste und ungnädig aus dem Raum geschickt werde.
Als Einzige der älteren Mädchen brauche ich zusätzliche Lektionen. Da ich neu im Kloster bin und nicht von adliger Geburt, kann ich nicht lesen oder schreiben. Fertigkeiten, von denen die Nonnen mir versichern, dass sie für den Dienst an Mortain benötigt werden, denn wie sonst soll ich Schwester Serafinas Rezepte lesen oder die Anweisungen, die mir sagen, wen ich töten muss? Ich verbringe lange, frustrierende Stunden allein im Skriptorium und übe wieder und wieder meine Buchstaben.
Obwohl die Nonnen strenge
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