Grave Mercy Die Novizin des Todes
Ismae«, sagt die Äbtissin. »Ich würde dir gern Kanzler Crunard vorstellen. Er ist Schirmherr unseres Klosters und agiert als Mittelsmann zwischen uns und der Außenwelt. Er ist außerdem das Oberhaupt einer der ältesten und edelsten Familie der Bretagne und Veteran der letzten vier Kriege. Er hat lange und hart um unsere Unabhängigkeit gekämpft. Und es ist die traurige Wahrheit, dass alle seine Söhne im Kampf gegen die Franzosen gefallen sind.«
Ich verneige mich mit einem respektvollen Knicks. »Guten Tag, gnädiger Herr.«
Er nickt kurz zum Gruß, aber seine Augen verraten nichts von seinen Gedanken.
»Wir haben einen neuen Auftrag für dich«, erklärt die ehrwürdige Mutter, und ein grimmiger Triumph steigt in mir auf angesichts dieser Chance, erneut meine Würdigkeit zu beweisen.
Die Äbtissin lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was hat Schwester Eonette dir über unsere politische Situation erzählt?« Sie stellt die Frage scheinbar leichthin, aber bei der ehrwürdigen Mutter ist alles eine Prüfung. Ich habe viele von Schwester Eonettes Lektionen versäumt, weil Schwester Serafina meine Hilfe brauchte oder weil ich im Skriptorium festsaß und mit den Buchstaben kämpfte, aber das wird die Äbtissin nicht interessieren.
Ich falte bescheiden die Hände auf dem Schoß. »Unser geliebter Herzog ist vor fast zwei Monaten gestorben, in den Tod getrieben durch die Aggression des französischen Regenten. Er und die anderen Adligen haben hart gekämpft, um Frankreich daran zu hindern, seinen Machtbereich auszudehnen, aber sie wurden besiegt. Wegen dieser Niederlage war unser Herzog gezwungen, dem Abkommen von Le Vergé zuzustimmen, dessen Bedingungen für die Franzosen günstig sind und es unserem Land schwermachen, seine Unabhängigkeit zu bewahren.«
Die Äbtissin wirkt erfreut und wirft einen Blick auf den Kanzler, als wolle sie sagen: Seht Ihr? Er nickt, dann zieht er fragend die Augenbrauen hoch. Als sie ihre Zustimmung gibt, richtet er das Wort an mich, und das tiefe Dröhnen seiner Stimme klingt befremdlich an diesem Ort, wo ich in all der Zeit nur Frauen habe sprechen hören. »Was ist mit unserer jungen Herzogin? Was weißt du über sie?«
Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, denn ich fühle mich unbehaglich bei der Vernehmung durch diesen fremden Mann. »Ich weiß, dass ihre Hand der Hälfte der europäischen Prinzen angeboten wurde und dass sie gelobt hat, die Unabhängigkeit unseres Landes zu bewahren.« Ich kann nicht umhin, Mitleid mit der armen Herzogin zu haben. »Sie ist an den Meistbietenden verkauft worden, trotz ihrer edlen Geburt.«
Die Augen des Kanzlers weiten sich vor Überraschung, und er wirft der Äbtissin einen fragenden Blick zu. »Das ist, was Ihr sie lehrt?«
»Nicht mit so vielen Worten, Herr Kanzler, aber Ihr müsst verstehen, dass jene, die sich zu Mortains Werk hingezogen fühlen, naturgemäß nichts für den Ehestand oder für erzwungene oder arrangierte Ehen übrig haben. Viele Frauen haben sich unserem Kloster sogar angeschlossen, um genau diesen Dingen zu entfliehen.« Die Äbtissin fordert den Kanzler mit kalten blauen Augen heraus und schaut in seine müden braunen Augen. Irgendetwas Unausgesprochenes steht zwischen den beiden. Kanzler Crunard wendet als Erster den Blick ab, und die Äbtissin dreht sich wieder zu mir um.
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Franzosen einen Spion ausschicken, der sich mit Baron Lombard treffen soll, um ihn zu bestechen. Der Hafen, den Lombard kontrolliert, wird ein strategisch wichtiger Ort sein, sollte wieder Krieg zwischen unseren Ländern ausbrechen. Wir möchten, dass du diesen Mittelsmann abfängst, bevor er sich mit Lombard trifft. Wir können es uns nicht leisten, einen weiteren unserer Adligen an die Franzosen zu verlieren.«
Mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich von dieser neuen Aufgabe höre. Sie ist viel komplexer als der Auftrag in der Taverne, eine wahre Prüfung all dessen, was ich gelernt habe, und ich bin begierig darauf, diese Prüfung zu bestehen.
»Du wirst Kanzler Crunard heute Abend als seine Mätresse in Lombards Jagdhaus in Pont-Croix begleiten«, sagt die Äbtissin. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf den Kanzler. Er ist so alt, dass ich mir sicher bin, dass jeder diesen Betrug durchschauen wird. Die meisten Leute werden mich für seine Tochter halten. »Nun«, fährt die Äbtissin fort, »es gibt viel vorzubereiten – ah! Da sind sie«, sagt
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