Grave Mercy Die Novizin des Todes
so viele unbeantwortete Fragen, die das Kloster und meinen Dienst für es betreffen.
»Hattet Ihr denn die Absicht, im Kloster zu bleiben?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nur, dass es, wenn ich es tue, anders sein wird, vor allem jetzt, da ich weiß, dass ich der Unbescholtenheit der Befehle dort nicht länger trauen kann.«
V ierundfünfzig
WIR HOLEN DIE HERZOGIN und die anderen kurz vor den Mauern von Rennes bei der alten Abtei der Heiligen Brigantia ein. Isabeau ist bereits da, hierhergebracht von Madame Hivern und der getreuen Louyse. Als Anne und Isabeau ihren Bruder sehen, stoßen sie Rufe der Freude aus und stürzen sich auf ihn. Für einen flüchtigen Moment sind sie nicht Prinzessin und Herzogin und Bastard, sondern eine wiedervereinte Familie.
Es überrascht mich, mich in Louyses stämmigen Armen wiederzufinden, als sie mich an ihren Busen drückt, erleichtert darüber, mich unverletzt zu sehen. Da ich nicht recht weiß, was ich mit solcher Zuneigung anfangen soll, tätschele ich ihr unbeholfen den Rücken.
Die Schwestern von Brigantia geben uns einige Sekunden Zeit, um uns an unserem Wiedersehen zu erfreuen, dann begleiten sie uns in die Räume, die sie für uns vorbereitet haben. Sie vermuten zu Recht, dass wir Ruhe brauchen und uns nach unserer Reise erfrischen müssen. Ich bin tatsächlich ermattet von der Reise und betrauere bereits den Verlust der privaten Zeit, die Duval und ich auf unserem Weg geteilt haben. Eine Novizin öffnet die Tür für mich, dann zieht sie sich leise zurück. Endlich allein schließe ich die Augen und sacke gegen die dicke Holztür.
Ein schwaches Rascheln von Stoff lässt mich erschrocken die Augen aufreißen. Die Äbtissin von St. Mortain sitzt in einem Sessel am Kamin, bekleidet mit ihrem schwarzen zeremoniellen Habit. Ihr bleiches Gesicht verrät nichts von ihren Gedanken.
Furcht und Bedauern und Reue durchzucken mich, hässliche, schändliche Gefühle, die mich dazu treiben, auf die Knie zu fallen. »Ehrwürdige Mutter!«, sage ich, und mein Verstand verlässt mich zur Gänze, als meine Stirn den kalten, harten Boden berührt.
»Tochter.« Ihre Stimme ist eisig, und mein Kopf wird leer vor Panik. Ich hatte gedacht, dass ich noch Zeit haben würde, um über alles nachzudenken, was ich ihr sagen muss. Und dass ich es in einem Brief tun würde, den sie lesen würde, während sie hinter den dicken Mauern des Klosters sitzt und nicht wie die fleischgewordene Vergeltung vor mir.
Ein Pergament raschelt. Ich spähe unter meinen Wimpern empor und sehe, wie sie eine Nachricht auf ihrem Schoß ausbreitet. Meine Nachricht an sie. »Es scheint, dass wir viel zu bereden haben.«
»Ja, ehrwürdige Mutter. Das ist wahr.« Ich bin erfreut, dass meine Stimme nicht allzu sehr zittert.
Und dann erinnere ich mich an meine Entschlossenheit und erhebe mich auf die Füße, obwohl sie mich nicht dazu aufgefordert hat. Ich nehme mir einen Moment Zeit, um meine Röcke glatt zu streichen und mich zu sammeln, dann sehe ich ihr fest in die Augen. »Kanzler Crunard hat uns alle betrogen.«
Ihr Gesicht ist so reglos wie Marmor. »Erkläre das.«
Und so tue ich es. Ich erzähle ihr von seiner Heimlichtuerei und Schläue und dass er im Hintergrund gehockt und Menschen manipuliert hat, als seien sie Schachfiguren, und ich erwähne auch, dass er Leben zerstört hat. Als ich fertig bin, kann ich nicht erkennen, ob sie mir glaubt oder nicht. Endlich beginnt sie zu sprechen. »Wenn das tatsächlich der Wahrheit entspricht, wird Kanzler Crunard sich für vieles rechtfertigen müssen.«
Ich nicke und akzeptiere, dass mein Bericht ein großer Schock für sie gewesen sein muss. »Er ist sicher im Kerker in Guérande untergebracht und wartet auf die gerechte Strafe, die die Herzogin und ihr Rat ihm anmessen werden.« Ich verschränke die Hände fest vor meiner Brust. »Da ist noch etwas, ehrwürdige Mutter. Etwas, wovor ich Euch warnen muss.« Sie zieht die Augenbrauen hoch, unterbricht mich aber nicht, daher fahre ich fort. »Ich bin zu der Ansicht gelangt, dass die Todesmale, die Mortain benutzt, um unsere Hände zu leiten, erheblich vielschichtiger sind, als wir dachten. Ich fürchte, sie sind nicht immer dazu bestimmt, unsere Taten zu leiten, sondern eher ein Bild dessen, was geschehen wird …«
»Schweig!« Die Äbtissin steht abrupt auf und schneidet mir mit einer weit ausholenden Handbewegung das Wort ab. »Hast du die Absicht, jene zu erziehen, die über dir stehen? Du erzählst mir
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