Graveminder
flüsterte Maylene, während sie Blumen auf einen anderen Sarg warfen. »Als ob Tote Blumen brauchen.«
Sie wandte sich zu Rebekkah um und setzte ihre ernste Miene auf. »Was brauchen die Toten?«
»Gebete, Tee und ein wenig Whisky«, antwortete die siebzehnjährige Rebekkah. »Sie brauchen Nahrung.«
»Und Erinnerungen. Liebe. Loslassen«, setzte Maylene hinzu.
Rebekkah wehrte Pater Ness und Reverend McLendon ab, die sie aufhalten und trösten wollten. Aber sie waren an Maylenes exzentrisches Gebaren gewöhnt – und daran, dass Rebekkah bei Maylene zu bleiben pflegte, wenn diese bei den Toten verweilte. Sie würden auch Rebekkah in Ruhe lassen.
Sobald alle fort waren, sobald der Sarg zugeschüttet war, sobald sie und Maylene allein auf dem Friedhof waren, öffnete Rebekkah ihre henkellose Handtasche und zog das mit Rosen gravierte Fläschchen heraus. Sie trat ans Grab und kniete auf der Erde nieder.
»Ich habe es bei mir getragen, seit es mit der Post gekommen ist«, erklärte sie Maylene. »Ich habe getan, was mir in dem Brief aufgetragen wurde.«
Es war ihr verkehrt vorgekommen, Weihwasser mit gutem Whisky zu mischen, aber Rebekkah hatte Maylenes Anweisungen genau befolgt. In Maylenes Vorratskammer standen immer viele Flaschen mit Weihwasser. Weihwasser und himmlischer Whisky. Sie drehte das Fläschchen auf, trank einen Schluck und neigte es dann einmal über dem Grab. Tränen strömten ihr über die Wangen. »Sie ist sehr geliebt worden«, sagte sie.
Sie nahm einen zweiten Schluck und hob das Fläschchen wie zu einem Trinkspruch gen Himmel. »Von meinen Lippen an deine Ohren, du alter Mistkerl.« Dann neigte sie es ein zweites Mal über dem Grab.
»Schlaf gut, Maylene! Bleib, wo ich dich hingelegt habe, hörst du?« Sie nahm einen dritten Schluck und goss zum dritten Mal etwas aus dem Fläschchen auf die Erde. »Du wirst mir fehlen.«
Dann, endlich, weinte Rebekkah.
13. Kapitel
Daisha hielt sich während der Bestattung abseits, um nicht gesehen zu werden. Heute Morgen hatte sie einer Frau, die den Müll vors Haus trug, einen schwarzen Kapuzenpullover und Jeans – und Nahrung – gestohlen. Nachdem Daisha sich gesättigt hatte, war die Frau nicht mehr aufgestanden, aber ihr Herz hatte noch geschlagen. Und sie hatte den Großteil ihrer Haut noch besessen. Bei der Vorstellung von Haut und Blut hätte Daishas Magen nicht knurren dürfen, doch er tat es. Nachher war der Gedanke daran eklig, aber währenddessen war es … genau richtig.
Es machte auch den Kopf klarer. Dieser Teil war wichtig. Je länger sie zwischen den Mahlzeiten wartete, umso weniger Konzentration brachte sie auf. Und umso weniger Körper besaß sie. Sie hatte das Gefühl, in alle Richtungen zugleich gezogen und geschoben zu werden. Sie war schon einmal auseinandergefallen und wie Rauch im Wind zerstoben.
An diesem Morgen stand sie auf einem Friedhof und sah zu, wie Maylene in die Erde gelegt wurde. Umgebracht und dann begraben zu werden, erschien so endgültig, aber offensichtlich war es nicht endgültig.
Daisha beobachtete alles aus der Deckung eines Baums hervor. Sie hatte kommen müssen. Als sie die Glocke gehört hatte, war ihr Körper an diese Stelle gezogen worden, genau wie an dem Tag, als sie Maylene begegnet war. Die Unfähigkeit, den seltsamen Zwängen zu widerstehen, die Unmöglichkeit, Gedanken oder Erinnerungen festzuhalten, die Hungergefühle, die sie peinigten, alles fühlte sich verkehrt an. Daisha wünschte sich Antworten, wollte Gesellschaft, sehnte sich danach, sich richtig zu fühlen. Nur Maylene hatte das verstanden, aber nun war sie tot.
Vielleicht wachte Maylene ja auch wieder auf.
Daisha stand da und wartete, doch niemand entstieg der Erde. Niemand kam zu ihr. Sie war genauso allein, wie sie es gewesen war, als sie noch richtig lebte. Daisha konnte sich nicht daran erinnern, aus dem Boden gekrochen zu sein. Sie wusste nicht genau, wann sie aufgewacht war, aber sie war wach. Diesen Teil kannte sie.
Sie lehnte den Kopf an den Baum.
Die kreischende Frau schnappte fast über, und der Bestatter starrte sie finster an. Immer wieder war sein Blick prüfend über die Menschenmenge und den Friedhof geglitten, und immer wieder hatte er auf der Frau geruht, die nun in Maylenes Haus wohnte.
Jetzt leuchtete sie so, wie Maylene geleuchtet hatte. Maylenes Haut hatte gewirkt wie von Mondschein erfüllt, ein Leuchtfeuer, das Daisha schon angezogen hatte, bevor sie sie sah. Daisha hatte nur gewusst, dass da ein Licht
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