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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Marr
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Hände und Stimmen zerstreuten sich, und Byron fragte sich, ob er sich das alles nur eingebildet hatte.
    War er derjenige, der an Halluzinationen litt?
    »Du wolltest Erklärungen«, sagte William in eine weiße Atemwolke hinein. »Gleich wirst du einige bekommen.«
    Byron zuckte zusammen, als er hörte, wie hinter ihm eine Tür ins Schloss fiel. In diesem Moment schien sich die Umgebung zu verändern. Der dämmrige Tunnel wurde noch düsterer, bis er plötzlich in gleißendem Licht aufflammte. Vor ihnen erschien eine Öffnung, das Ende des zuvor dunklen Durchgangs.
    »An manchen Tagen ist der Weg lang«, sagte sein Vater neben ihm, »und an anderen ist er kurz. Wenn es so schnell vorwärtsgeht wie heute, wollen sie sofort reden.«
    Byron drehte sich rasch um, als etwas an ihm vorbeirannte und in den Schatten an den Tunnelwänden verschwand. »Sie?«
    »Die Toten, Sohn.« William näherte sich den verschwommenen Umrissen von Gebäuden, die am Ende des Tunnels erschienen. Während sie gingen, wurden die hölzernen Fassaden deutlicher, als nähmen sie langsam Gestalt an. »Dies ist ihre Welt. Sie warten darauf, dich kennenzulernen.«
    »Die Toten?« Byron spähte ins Dunkel hinein, um festzustellen, was sich dort versteckt hielt. Doch die Fackel in der Hand seines Vaters erhellte nur einen kleinen Kreis rings um sie herum. Und selbst wenn der Fackelschein tiefer in den Gang hineingereicht hätte, hätte das Licht nach Byrons Vermutung wahrscheinlich wenig geholfen. »Wir sind also hier, um die Toten zu treffen, die mich kennenlernen wollen«, wiederholte er argwöhnisch.
    »Nicht alle«, murmelte William. »Manchen von ihnen können wir hier nicht begegnen. Du wirst deine Mutter nicht sehen. Oder wenn du Kinder hättest, die gestorben sind … enge Freunde … oder andere Bestatter.«
    »Du behauptest, wir befänden uns im Land der Toten … und dass unter unserem Haus die Hölle liegt.« Byron sprach leise, aber in der vollkommenen Stille hallte seine Stimme laut im Tunnel wider.
    »Weder die Hölle noch der Himmel.« Meist achtete William auf den Boden vor ihnen, aber ein paarmal huschte sein Blick an den Wänden entlang, als sähe er ebenfalls Dinge am Rand des Lichtkegels. »Vielleicht liegen sie woanders, aber dies ist der Ort, den wir erreichen können.«
    »Wir?«
    »Du bist der nächste Undertaker, Byron.« William unterbrach sich kurz. Seine Hand krampfte sich um die Fackel, deren flackernder Schein über sein Gesicht huschte. »Ich hatte überlegt, es dir auf andere Art zu enthüllen, aber Sehen bedeutet Glauben. Du musst es sehen, und danach … können wir reden.«
    Dann beschleunigte William den Schritt, und Byron blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen oder allein im Dunkel zurückzubleiben.
    Die Toten.
    Byron lagen Worte auf der Zunge, die vermutlich nicht annähernd der Ehrfurcht entsprachen, die er nach dem Wunsch seines Vaters hätte zeigen sollen. Also schluckte er sie hinunter. Er war sich nicht sicher, was ihm merkwürdiger vorkam – dass sein Vater ihn zu einer Begegnung mit den Toten mitnahm oder das Gefühl, verraten worden zu sein, nachdem dies hier all die Jahre zu seinem Zuhause gehört hatte. Eine Flasche Schnaps in einem verborgenen Winkel zu verstecken oder einen Flirt oder ein Hobby geheim zu halten, mochte noch angehen. Aber hier eröffnete sich eine ganze Welt.
    Am Ende des Tunnels blieb William stehen. Mit einer begütigenden Geste streckte er die flache Hand hinter sich aus. »Ich möchte dir jemanden vorstellen«, erklärte er.
    Zum ersten Mal klang seine Stimme nervös. Sie bebte leicht, und die ausgestreckten Finger drohten ins Zittern zu geraten. Sie taten es nicht, aber Byron kannte seinen Vater gut genug und nahm die Anzeichen von Besorgnis wahr.
    William steckte die Fackel in ein Loch in der Wand, wo sie erlosch, sobald er sie losließ. Dann trat er aus dem Tunnel hinaus. »Charlie«, sagte er.
    Vor einem Panorama, das wie eine vollkommen intakte Goldgräbersiedlung aussah, stand ein Mann, der so gar nicht zu den einfachen Gebäuden passte, die ihn umgaben. Der Mann, vermutlich Charlie, trug einen Anzug im Stil der Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts, komplett mit seidenem Einstecktuch, breitem Filzhut und Seidenkrawatte. Byron vermutete, dass die Krawatte und das Einstecktuch farblich aufeinander abgestimmt waren, aber die Welt bestand nur noch aus Grautönen. Sämtliche Farben waren verschwunden.
    »Sie haben ziemlich lange gebraucht. Machen Sie hin,

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