Graveminder
alter Mann. Vielleicht haben Sie ja Lust, ein Weilchen bei uns zu bleiben.«
William schüttelte den Kopf. »Ich will zu Ann, und ich bezweifle, dass meine Frau sich hier aufhält.«
Vor einer Glastür mit der Aufschrift Mister Ds Tipptopp-Taverne blieb Charlie stehen. Er streckte die Hand aus, ergriff die Messingstange, die als Türgriff diente, zog sie auf und lud William und Byron mit einer Handbewegung zum Eintreten ein. Als William vorbeiging, hörte Byron, wie Charlie leise etwas fragte. »Und Ihr Graveminder?«
»Nicht!« William hob eine Faust, als wolle er Charlie schlagen.
»Entspannen Sie sich, Junge!« Die Drohung in Charlies Stimme war fast mit Händen zu greifen. Er zuckte mit keiner Wimper, sondern grinste, die Zigarre zwischen den Zähnen. »Ihr Graveminder ist vollkommen sicher, kann aber erst weitermachen, wenn Sie hier sind. So sind nun einmal die Regeln.«
Byron trat vor seinen Vater und hoffte, die Spannung zwischen den beiden mindern zu können. »Was ist ein Graveminder?«
Zwischen einem Schritt und dem nächsten zeigten sich auf Charlies Gesicht unterschiedliche Gefühlsregungen – Verblüffung, Zweifel und schließlich Belustigung. »Sie haben dem Jungen gar nichts erzählt, alter Mann?« Er hielt inne und musterte William unverwandt. »Und die andere?«
William ließ den Arm an der Seite hinabhängen und öffnete die Faust. »Maylene und ich haben beschlossen, die beiden so lange wie möglich nicht damit zu behelligen.«
»Und jetzt ist Maylene tot.« Charlie stieß einen Pfiff aus.
Byrons Geduld war zu Ende. »Würde mich mal jemand aufklären?«
»Junge, ich möchte nicht für Geld und gute Worte« – Charlie blickte nach unten – »in Ihren hässlichen Schuhen stecken. Ich würde allerdings viel Geld für einen guten Platz bei dieser Show bezahlen. Wirklich eine Schande, dass ich hier festsitze.«
Dann trat er an Byron vorbei ins halbdunkle Innere des Lokals. Es schien seine besten Zeiten längst hinter sich zu haben. An den Wänden klebten verblichene Tapeten, die an einigen Stellen zerrissen waren, an der Decke verliefen nackte Rohre, und viele der samtbezogenen Sofas waren durchgesessen. Eine niedrige Bühne nahm die Vorderseite des Raums ein. Darauf befanden sich ein Schlagzeug und ein kleiner Flügel, die einzigen Gegenstände, die keine Spuren von Alter, Gebrauch oder Vernachlässigung aufwiesen. Überall standen hochlehnige Stühle um weiß gedeckte Tische herum. Auf jedem Tisch flackerte eine kleine Kerze. Auf der rückwärtigen Seite des Raums entdeckte Byron eine lange Holztheke und einen Durchgang mit einem Vorhang davor. Der Vorhang schien, genau wie die Tischtücher, stellenweise fadenscheinig zu sein. Das Lokal strahlte eine müde Eleganz aus, die von besseren Zeiten erzählte. Was fehlte, waren die Gäste: Bis auf eine Kellnerin und einen Barkeeper war das gesamte Etablissement leer.
»Ah, da ist unser Tisch.« Charlie streckte den Arm aus und wies zur Vorderseite des Raums.
Als sie den Tisch erreichten, bemerkte Byron in der Mitte eine Karte. Reserviert für Mister D und Gäste stand in abgezirkelten, kalligraphischen Buchstaben darauf.
William wandte sich an die Kellnerin, die ihnen gefolgt war. »Scotch. Drei.«
Sie warf Charlie einen Blick zu. »Mister D?«
Mister D? Byron musterte den Mann, der sie in den Klub geführt hatte, dann das Schild vor ihnen und schließlich seinen Vater.
Charlie – Mister D – nickte. »Aus meinem Spezialvorrat.«
Die Kellnerin huschte davon.
»Und bringen Sie uns regelmäßig Nachschub!«, rief Charlie ihr nach. Dann schlug er Byron auf die Schulter. »Sie können es gebrauchen.«
19. Kapitel
Daisha stand vor dem Bestattungsinstitut, als sie den starken Sog spürte. In diesem Gebäude hatte sich ein gähnender Schlund geöffnet. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewusst, dass er existierte, aber nun fühlte sie ihn. Er wollte sie mit Haut und Haaren verschlingen, sie zu dem unbekannten Ort bringen, den die Toten aufsuchten, die nicht umherliefen, und sie für immer dort behalten.
Dafür sorgen, dass ich richtig tot bin, dachte sie.
Etwas wie Einsamkeit stieg in ihr auf, als sie dort stand und dem Drang widerstand, den Baum neben sich zu umarmen. Einmal hatte sie ihn gesehen, den Undertaker, wie er den Baum hinaufgeklettert und auf einem Ast balanciert war, um einen Drachen herunterzuholen, der sich dort verfangen hatte. Er war noch ein Teenager gewesen und auf den Boden gesprungen, um den Kindern – zu
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