Graveminder
denen auch sie gehört hatte – den Drachen zurückzugeben. Er hatte sie nicht angesehen, als wären sie weniger wert, weil sie kein Geld hatten wie seine Familie, und er hatte Daisha nicht angesehen, als wäre sie etwas Ekelhaftes. An diesem Tag war er ein Held gewesen.
Noch kein Ungeheuer.
Jetzt würde er sie töten, wenn er wüsste, was sie war. Jetzt würde er dafür sorgen, dass alles zu Ende war.
Stunden vergingen, während sie dort stand und gegen die Versuchung ankämpfte, das Gebäude zu betreten und den Schlund des gierigen Abgrunds zu suchen, der sich darin befand.
Sie brauchte etwas, damit sie nicht auseinanderfiel. Nahrung, Worte, etwas zu trinken. Seit sie tot aufgewacht war, hatte sie seltsame Bedürfnisse. Aber seltsam oder nicht, sie musste diese Bedürfnisse so dringend befriedigen, wie sie früher die Luft zum Atmen benötigt hatte. Blut und Fleisch waren nicht so schwer zu finden, aber mit Geschichten verhielt es sich ein wenig anders. Schon vor ihrem Tod hatte sie sich nicht so gut darauf verstanden, mit Leuten zu reden. Inzwischen fiel es ihr sogar noch schwerer.
Da war allerdings eine Frau, die sie nicht kannte. Sie ging zielbewusst einher, als wisse sie genau, wohin sie wollte, als wisse sie Bescheid. Sie war nur ein paar Jahre älter als Daisha, nicht einmal so alt wie die neue Totenwächterin.
Daisha folgte ihr ein Weilchen und beobachtete, wie sie immer wieder innehielt. Sie tackerte mit einem Heftgerät Blätter an Masten und lauschte dabei der Musik aus ihren Ohrhörern. Daisha nahm den Bass wahr, aber nichts weiter.
Sie näherte sich der Frau und trat um sie herum, bis sie vor ihr stand. »Ich glaube, ich habe mich verlaufen«, erklärte sie.
Die Frau stieß einen leisen Schrei aus und nahm einen ihrer Ohrhörer heraus.
Verblüfft trat Daisha rasch ein Stück weg.
»Entschuldigung, ich habe dich nicht kommen hören.« Die Frau errötete. »Wahrscheinlich sollte ich meine Musik nicht so laut stellen.«
»Warum?«
Die Frau hielt den Papierstapel hoch, den sie mit einer Hand umfasst hielt. »Hier streift ein … ähem … wildes Tier umher.«
»Oh.« Daisha sah sich um. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Ich gehöre zum Stadtrat. Wir versuchen, alle Einwohner zu warnen, aber das dauert eine Weile.« Sie lächelte verlegen. »Ich wollte warten, aber ich habe später noch etwas vor und … Tut mir leid. Das interessiert dich bestimmt nicht.« Lachend unterbrach sie sich. »Ich bin furchtbar, was? Das sind die Nerven.«
»Ich kann Ihnen helfen.« Daisha streckte eine Hand aus. »Wenn da draußen ein Tier herumläuft, möchte ich auch nicht allein sein.«
»Danke.« Die Frau reichte ihr ein paar Flugblätter. »Ich bin Bonnie Jean.«
»Ich hänge eins an diesen Pfahl.« Daisha ging auf einen Lichtmast zu.
»Warte!« Die Frau folgte ihr. »Du hast den Tacker vergessen.«
»Tut mir leid.« Daisha ging weiter, bis sie sich im Schatten befanden, weiter entfernt von der ohnehin leeren Straße.
»Es ist okay«, sagte Bonnie Jean. »Wenn wir uns beeilen … Ich habe noch eine Verabredung.«
Es ist okay. Daisha hörte die Worte, die Erlaubnis. Es ist okay. Wie bei Maylene. Sie will mir helfen.
»Danke«, flüsterte Daisha, und dann nahm sie Bonnie Jeans Hilfe an.
Nachher ging Daisha durch die friedlichen Straßen und wünschte sich, Maylene wäre noch am Leben. Sie würde mir Geschichten erzählen, dachte sie. Diese Frau hat mir gar nichts erzählt, und dann war sie leer. Als Daisha aß, hatte sich Bonnie Jean sehr bald nicht mehr gerührt. Sie teilte keine Worte mit ihr, sondern verschwendete ihren Atem nur an ein Wimmern. Und dann war sie ganz verstummt.
20. Kapitel
Rebekkah saß an Maylenes Schreibtisch. Neben der Schreibunterlage stapelten sich Papiere, und quer über das oberste Blatt war eine Notiz gekritzelt. Orangen besorgen. Zerstreut fuhr Rebekkah mit den Fingerspitzen über das Holz des Möbelstücks. Maylene hatte sich geweigert, es aufarbeiten zu lassen, und argumentiert, das Muster aus Kratzern und abgeschabten Stellen, die es im Lauf der Jahre erworben hatte, mache es einzigartig und zu einem ganz persönlichen Eigentum. Jahre hinterlassen Geschichten, die auf der Oberfläche geschrieben stehen , hatte sie gesagt. Dieser Raum, Maylenes Schlafzimmer, war voller Geschichten. Die Spitze an den Kissen und zarten Deckchen auf der Kommode hatte Maylenes Großmutter gefertigt. Der deutlich sichtbare Kratzer am Fuß des Tudor-Himmelbetts stammte von Jimmy, der als
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