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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Marr
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gewohnt, Diagnosen zu stellen – seine Patienten waren bereits tot, wenn er ihnen begegnete. Armschmerzen konnten ein Anzeichen für einen Herzinfarkt sein. Er trat auf seinen Vater zu. »Lass uns nach oben gehen, Dad. Ich rufe Doktor Pfefferman an.«
    William überhörte den Vorschlag. »Ich erzähle dir alles, was du wissen musst. Aber es wäre mir lieber, es käme nicht als ein solcher Schock, mein Sohn. Das tut mir aufrichtig leid.«
    »Wovon redest du?« Byron ging mit sich zu Rate, ob er nach oben rennen und einen Krankenwagen rufen sollte. Sein Vater benahm sich geradezu geistesgestört. Waren es Trauer und Verleugnung oder doch ein Herzanfall oder ein Hirnschlag? Byron versuchte sich an andere Symptome als den Armschmerz zu erinnern, doch ihm fiel nichts ein.
    »Hör zu! Und konzentrier dich!« William strich mit der Hand an der Außenseite eines blassblauen Metallschranks entlang, der an der Rückwand des Raums stand.
    »Worauf?«
    Der Schrank klickte und glitt zur Seite, und ein Tunnel wurde sichtbar. »Und vertrau auf deinen Instinkt!«, setzte William hinzu.
    »Ja, da will ich doch verdammt …«
    »Nein.« William sah Byron streng an. »Hier solltest du dich ehrfürchtig verhalten.«
    »Hier?« Byron trat näher, bis er Schulter an Schulter mit seinem Vater stand. Er hatte sich alle möglichen Antworten auf seine offenen Fragen vorgestellt. Ein Tunnel hinter einem Schrank in einem Lagerraum hatte allerdings nicht auf dieser Liste gestanden. »Wo genau ist hier ? Und wohin führt dieser Weg?«
    William trat in den Tunnel und nahm eine Fackel von der Wand, die aus einem mittelalterlichen Verlies zu stammen schien – graue Lumpen waren um ein verwittertes Holzstück gewickelt. Die Fackel flammte auf, als hätte jemand einen Lichtschalter umgelegt. Bei Fackeln ist so etwas doch gar nicht möglich, dachte Byron. Sein Vater hatte sie mit der Hand berührt, und die Flamme war erschienen und warf ein schwaches Licht in den Tunnel. Auf dem Boden befanden sich Vorrichtungen, die an aufgegebene Eisenbahnschienen erinnerten. Sie waren mit Moos überwuchert und mit Schmutz bedeckt. Die Tunnelwände ähnelten dem grob herausgehauenen Zugangsschacht zu einer Höhle. Er wirkte nur wenig sicherer als die verlassenen Bergwerkstunnel, die Byron einmal mit befreundeten Hobby-Höhlenforschern erkundet hatte.
    Byron spähte zuerst in den Tunnel und wandte sich dann an seinen Vater. »Ist das ein Tunnel aus der Prohibitionszeit? Oder aus einem Krieg? Aus … ich weiß nicht. Also, was ist das? Was hat es mit deinem Arm zu tun? Warst du hier unten, um dir das anzusehen, als du …«
    »Nein. Dies ist der Eingang zum Land der Toten«, erklärte William.
    » Was hast du gesagt?« Byron starrte seinen Vater an. William musste in eine durch Trauer ausgelöste Demenz oder in einen Schockzustand geraten sein. »Lass uns wieder nach oben gehen! Vielleicht können wir eine Weile herumfahren und …«
    »Komm weiter!« William forderte seinen Sohn mit einer Handbewegung zum Weitergehen auf. »Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, es sieht … Ich weiß genau, wie eigenartig es aussieht, aber du musst mit mir kommen. Die Toten haben zwar die ganze Ewigkeit Zeit, aber das macht sie nicht geduldiger. Tritt in den Tunnel!«
    Byron zögerte. Wahrscheinlich war es nur ein unbenutzter alter Durchgang, ein Fluchttunnel oder etwas Ähnliches. Tunnel in das Reich der Toten gab es nicht.
    Das war nicht real. Es war … Gesichter erschienen in der eiskalten Luft. Hände streckten sich nach seinem Vater aus, und Byron war nicht sicher, ob sie ihn willkommen hießen oder bedrohten. Grauen stieg in ihm auf, als die geisterhaften Gestalten auf seinen Vater zurasten. Byron trat in den Tunnel und stellte sich vor seinen Vater. »Dad?«
    William beugte sich zu ihm herüber und schrie ihm ins Ohr. »Bleib einfach bei mir! Sie benehmen sich nicht immer so.«
    Sie?
    Rasch schritt William in die strudelnde Dunkelheit hinein, die vor ihnen lag. Falls er etwas sagte, gingen seine Worte in einer heftigen Bö unter, die an ihnen zerrte. Der starke Wind fühlte sich an wie Zähne, die sich in Haut schlugen, wie kalter Atem in Byrons Nacken, wie ekelhafte Nässe, die sich gegen seine Lippen presste.
    Dem flackernden Licht schien der heulende Wind nichts anhaben zu können, aber die Luft war kalt. Raureif überzog die Wände und bedeckte sie mit einer immer dickeren weißen Schicht.
    Und dann ließ das Tosen so plötzlich nach, wie es begonnen hatte. Die

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