Graveminder
Krabbelkind ein Spielzeugauto dagegengeworfen hatte.
Familie.
Manchmal kam es Rebekkah seltsam vor, dass sie so viel über den Stammbaum ihres Stiefvaters wusste und nichts über ihren leiblichen Vater, aber Jimmy war ein Teil ihres Lebens gewesen und ihr biologischer Vater nur ein Name auf ihrer Geburtsurkunde. Jimmy war der einzige richtige Vater gewesen, den sie je gehabt hatte – obwohl er ihr Leben nur ein paar Jahre geteilt hatte –, und nach seinem Tod war Maylene ihre engste Verwandte gewesen. Rebekkah und ihre Mutter hatten ein gutes Verhältnis: Sie redeten, besuchten einander und verstanden sich recht gut. Aber zwischen ihnen hatte nie jenes enge Band bestanden wie zwischen Rebekkah und Maylene.
Und jetzt ist es zerrissen, dachte Rebekkah. Maylene ist tot.
Sie strich mit der Hand über die Schreibtischplatte. In Maylenes Zimmer hingen Geschichten wie Geister in der Luft, und Rebekkah hätte sie alle gern noch einmal gehört. Wünschte, sie könnte jene hören, die Maylene nicht erzählt hatte, oder einfach nur ihrer Stimme lauschen.
Stattdessen hatte sie stundenlang zugehört, als die Leute ihr erklärten, wie sehr Maylene ihnen fehle. Was ihr nicht sagt, hatte Rebekkah gedacht. Hatte gelächelt, als man ihr beteuerte, welch wunderbarer Mensch Maylene gewesen sei. Als ob sie das nicht gewusst hätte. Sie hatte nicht losgeschrien, als alle sie bemitleideten, weil der Verlust sie so schwer getroffen habe. Wie konnte das jemand beurteilen?
Anfangs hatte Rebekkah mit Andeutungen versucht, die letzten Trauergäste aus dem Haus zu komplimentieren, doch schließlich hatte sie die Besucher schlichtweg hinausgeworfen. Natürlich wusste sie die Beflissenheit einiger von Maylenes Nachbarn und Freunden zu schätzen – okay, vielleicht grollte sie ihnen doch ein wenig. Die Gemeinde hatte Maylene nie vollständig anerkannt. Alle waren einigermaßen freundlich gewesen, aber sie waren nie einfach auf eine Tasse Tee oder ein Stück Kuchen hereingeschneit. Aus Gründen, die Rebekkah nie verstanden hatte, hatte sich die Gemeinschaft immer leicht reserviert gegenüber Maylene und ihrer Familie verhalten.
Maylene hatte sich nie darüber beklagt. Wenn überhaupt, hatte sie die eigenartige Distanz gerechtfertigt, die die Stadt gegenüber den Barrows wahrte. »Die Leute haben ihre Gründe, Schätzchen«, hatte sie jedes Mal gemurmelt, wenn Rebekkah davon sprach. Rebekkah ließ sich nicht so bereitwillig davon überzeugen, dass jemand Grund haben könnte, Maylene nicht an seinen Tisch zu bitten.
Trotz allem wirkte die Stille im Haus beruhigend. Maylenes Haus – ihr Haus – hatte schon immer etwas Wohltuendes ausgestrahlt, das alle ihre Sorgen beschwichtigte. Selbst jetzt linderte die Atmosphäre des alten Farmhauses den Schmerz über Maylenes Verlust stärker, als Rebekkah es für möglich gehalten hätte. Sie strich mit einer Hand über Maylenes Schreibtisch und öffnete den Umschlag, den Mister Montgomery ihr zuvor gegeben hatte.
April 1993
Ich kann nicht behaupten, dass ich diesen Brief gern schreibe, Beks, ebenso ungern, wie Du ihn lesen wirst. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Lage sein werde, in näherer Zukunft persönlich mit Dir darüber zu sprechen. Wenn sich das ändert … bin ich vielleicht eine mutigere Seele geworden. Wenn nicht, sei nachsichtig mit mir, wenn ich nicht mehr bin.
Du bist ebenso das Kind meines Herzens, wie es Ella Mae war. Allerdings bist Du stärker. Zweifle nie an dieser Kraft. Es bedeutet keine Schande, dies einzugestehen, keinen Mangel an Respekt vor Ella. Ich liebe sie, aber ich gebe nicht vor, sie sei anders gewesen, als sie war. Du darfst das auch nicht. Ein Tag wird kommen, an dem Du sie vielleicht für die Wahl, die sie traf, hassen wirst. Es mag ein Tag kommen, an dem Du mich hasst. Ich hoffe, Du wirst uns allen vergeben.
Alles, was ich habe, alles, was ich bin, und alles, was die Frauen vor mir besessen haben – es gehört Dir. Die Papiere sind in Ordnung. Cissy und die Mädchen wissen seit Jahren Bescheid. Deine Mutter ebenfalls. Als Ella Mae starb, habe ich Dich zu meiner Alleinerbin gemacht. Das Haus und alles, was sich darin befindet, gehört Dir und Dir allein. Aber leider sind dabei das Gute und das Schlechte untrennbar miteinander verbunden. Gäbe es andere Möglichkeiten, bäte ich Dich um Deine Erlaubnis, aber Du bist meine einzige Wahl. Früher dachte ich, Ihr kämt beide infrage, Ella Mae und Du, und Ihr hättet Eure Entscheidung selbst treffen
Weitere Kostenlose Bücher