Graveminder
können.
Eines Tages wirst Du dies lesen, und wenn Gott will, wirst Du bereit dafür sein. Ich hoffe, mein Tod kam nicht überraschend. Wenn doch, dann befinden sich die Erklärungen, die Du brauchst, im Haus. Vertrau den Montgomerys. Vertrau Pater Ness. Beschäftige dich mit der Vergangenheit. Alle, die Dir vorangegangen sind, haben Aufzeichnungen hinterlassen. Die Tagebücher befinden sich hier im Haus. Zusammen werden sie – hoffentlich – jede Frage beantworten, die Du haben wirst … bis natürlich auf die eine: Warum bin ich zu feige, Dir das alles persönlich zu erzählen? Diese Frage kann ich Dir jetzt schon beantworten: Ich habe Angst, meine Liebe. Ich fürchte mich davor, dass Du mich so ansehen wirst wie Ella Mae. Ich fürchte mich davor, dass Du mich so ansehen wirst wie ich meine Großmutter. Ich habe Angst davor, dass Du mich verlässt, und ich bin so egoistisch, Dich nicht verlieren zu wollen. Lieber möchte ich, dass wir so weiterleben wie bisher und Du mich liebst.
Verzeih mir, Schätzchen, alle meine Fehler, und denk an mich, wenn ich nicht mehr bin. Alles andere ist so furchtbar, dass ich es nicht ertragen könnte.
Meine ganze Liebe und alle meine Hoffnungen sind mit Dir.
Grandmama Maylene
Maylenes enge Handschrift war ihr so vertraut wie ihre eigene. Die Worte allerdings ergaben wenig Sinn. Rebekkah hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was ihre Liebe zu Maylene ändern, was ihre Zuneigung in Hass verwandeln sollte.
Das zweite Schreiben, das sich in dem Umschlag befand, war eine Kopie von Maylenes Testament. Rebekkah überflog es oberflächlich, um sich davon zu überzeugen, was Maylene in ihrem Brief geschrieben hatte. Maylene hatte in der Tat jeden Gegenstand, jeden Cent, den sie besaß, und das Haus Rebekkah vermacht. Alles? Rebekkah fragte sich, wie lange Cissy schon davon wusste. Hatte sie sie deswegen immer gehasst? Rebekkah hatte nicht vor, diesen Gedanken allzu eingehend zu verfolgen. Cecilia Barrow hatte an diesem Tag schon mehr als genug von ihrer Energie in Anspruch genommen.
Stattdessen wandte sie ihre Überlegungen den Tagebüchern zu, die sich irgendwo im Haus befinden mussten. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen, wie sie die Erklärung für den Mord an ihrer Großmutter in Tagebüchern finden sollte. Und wo mochten die in dem weitläufigen Farmhaus bloß zu finden sein? Ein flüchtiger Blick verriet höchstens, dass Maylene für lange Zeit am gleichen Ort gelebt hatte. Unter der Zimmerdecke und über den Türrahmen waren Regalbretter eingebaut, die um den gesamten Raum herum verliefen. Sie waren dicht an dicht mit Büchern vollgepackt, von denen einige vom wiederholten Lesen oder durch ihr Alter abgeschabt waren. Aber nichts davon sah nach Tagebüchern aus. Rechts und links von Maylenes Bett standen Kleiderschränke, und an seinem Fuß befand sich eine Holztruhe. Das waren offensichtliche Stellen, um etwas aufzubewahren. Doch weder in den Schränken noch in der Truhe entdeckte Rebekkah irgendwelche Aufzeichnungen.
Sie durchsuchte die drei anderen Zimmer im ersten Stock – ihr eigenes, Ellas Zimmer und jenes, das Jimmy und ihre Mutter geteilt hatten. Ihr eigenes Zimmer wirkte recht aufgeräumt, die beiden anderen Räume aber waren mit Gerümpel vollgestellt. Noch schlimmer sah es auf dem Dachboden in der zweiten Etage aus. Darin türmten sich Maylenes angesammelte Besitztümer aus Jahrzehnten – und jener Kram, den alle, die vor Maylene hier gelebt hatten, ebenfalls in Jahrzehnten angehäuft hatten. Das Erdgeschoss war genauso vollgestopft. Das Geheimfach in einer Wand des Wohnzimmers war so voll, dass Rebekkah es nur öffnete und mit einer Grimasse sofort wieder zuschlug. Die Speisekammer war immer schon fast aus den Nähten geplatzt – ein Thema, das Maylene stets mit der lässigen Erklärung abgetan hatte, man wisse nie, worauf man vielleicht Appetit bekomme. Doch nirgendwo in dem Wust von Besitztümern im Haus machte Rebekkah etwas wie ein Tagebuch ausfindig. Was sie allerdings zu Gesicht bekam, waren Erinnerungen an die erstaunliche Frau, deren Leben zu Ende gewesen war, bevor Rebekkah sich von ihr hatte verabschieden können. Der Tod eines geliebten Menschen schmerzte immer, daran war nichts zu ändern, doch dieser Tod kam ihr schier unerträglich vor, weil er so plötzlich und gewaltsam eingetreten war.
Jimmy war auch plötzlich gestorben. Ella ebenfalls. Rebekkah konnte sie sich alle hier im Haus vorstellen. Nie wieder würde sie sie sehen.
Weitere Kostenlose Bücher