Graveminder
allerdings nicht, ob ich Antworten habe, die dir gefallen.« William winkte der Kellnerin. »Die Flasche.«
Als sie gegangen war, starrte Byron seinen Vater an. »Wusste Mom davon?«
»Ja.«
»Aber was war mit Maylene? Wenn Graveminder und Undertaker zusammen sind und jedes Amt in der Familie vererbt wird …« Er unterbrach sich und dachte nach. »Nach einer Generation funktioniert das nicht mehr.«
»Liebe heißt nicht Ehe, mein Sohn. Wenn sie sich entscheiden, zusammen zu sein, muss einer von ihnen eine neue Familie auswählen, die ihre Pflicht übernimmt. Der Sohn oder die Tochter bleiben verschont. Das ist der Vorteil des Vertrags. Man sucht eines seiner Kinder aus, das frei davon ist.« William lachte, doch es klang nur bitter. »Hätte ich Maylene geheiratet, wäre eines unserer Kinder auserwählt gewesen, und die andere Rolle wäre an eine andere Familie in der Stadt gegangen – an jemanden, den wir ausgesucht hätten. Hätten wir keine Kinder oder keine leiblichen Erben bekommen, die uns würdig und fähig erschienen wären, hätten wir einen Nachfolger aussuchen können. Das ist die Lücke in den Regeln, die Maylene klugerweise ausnutzte, um Rebekkah zu wählen. Die Entscheidung, Graveminder zu werden, verlangte ihrer Meinung nach auch, sich würdig zu erweisen. Und so beschloss sie, beiden – Ella und Rebekkah – die Wahl zu lassen. Aber Ella entschied sich anders, bevor Maylene Rebekkah überhaupt etwas sagen konnte.«
»Du hättest also …«
»Nur wenn du ungeeignet gewesen wärst. Nur wenn du nicht damit fertiggeworden wärst. Nur wenn ich es – tief im Herzen – besser für die Stadt gefunden hätte. Niemandem würde ich diese Pflicht eher anvertrauen. Du warst immer dazu bestimmt, der neue Undertaker zu werden.« William nahm der Kellnerin die Flasche ab, bevor sie sie auf den Tisch stellen konnte. Schweigend schenkte er ihnen beiden Scotch ein.
Als Byron auffiel, dass die Kellnerin noch neben dem Tisch stand, blickte er zu ihr auf.
Sie bückte sich. »Mister D lässt Ihnen etwas ausrichten«, flüsterte sie und glitt mit der Zunge an seiner Ohrmuschel entlang. »Wenn Sie wollen, können Sie die ganze Nacht hierbleiben. Geht aufs Haus.« Sie richtete sich auf und vollführte eine Handbewegung, die den ganzen Raum umfasste. »Sie können alle haben, alles . Nichts ist zu schräg.«
Die meisten Besucher des Klubs starrten ihn an. Amüsiertes Lächeln, halb offene Lippen, schwerlidrige Augen, verächtliche Blicke und unverhohlener Hunger – jeder sah anders drein. Byron fühlte sich seltsam entblößt und war unsicher, wie er reagieren sollte.
Die Kellnerin drückte ihm einen Umschlag in die Hand. »Hier ist ein Gutschein. Die Gültigkeit ist unbegrenzt … außer Sie sterben, natürlich. Solange Sie leben, stehen wir Ihnen zur Verfügung.«
»Danke«, sagte er, nicht weil er aufrichtig dankbar gewesen wäre, sondern weil sie ihn so erwartungsvoll ansah. »Ich bin nur einfach nicht … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Sie neigte sich zu ihm herüber, strich ihm mit den Lippen über die Wange und drückte ihm dabei rasch ein Streichholzbriefchen in die Hand. »Willkommen in unserer Welt, Undertaker!«
22. Kapitel
Daisha hob die Hand, um an die Tür des Wohnwagens zu klopfen. Es fühlte sich merkwürdig an, hier zu klopfen, aber andernfalls hätte sie unangekündigt hineinspazieren müssen, und das fühlte sich ebenfalls befremdlich an. Nichts vermittelte ihr das Gefühl, richtig zu sein: Hier zu sein, war nicht richtig, aber nicht hier zu sein, war auch verkehrt.
Die Tür öffnete sich, und vor ihr stand ihre Mutter. Sie trug ein T-Shirt, das praktisch an ihr klebte, und zu enge Jeans. Make-up überdeckte notdürftig die fleckige Haut, und die blutunterlaufenen Augen konnte die Schminke erst recht nicht verbergen. Gail hielt sowohl eine Zigarette als auch eine Bierflasche in der Hand. Einen Moment lang starrte sie ihre Tochter nur an.
»Aber du bist doch weg. Du bist gegangen.« Hinter ihr flackerte der Fernsehbildschirm und warf bläuliche Schatten an die Wand.
»Nun bin ich eben wieder da.« Daisha überlegte, ob sie ihre Mutter beiseiteschieben und den Wohnwagen betreten sollte, aber bei der Vorstellung, Gail zu berühren, zögerte sie.
»Wie kommt’s?« Gail lehnte sich gegen den Türrahmen und musterte Daisha. »Ich habe keine Zeit, dir aus der Klemme zu helfen, falls du in Schwierigkeiten steckst, klar?«
»Wo ist Paul?«
Gail zog die Brauen zusammen.
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