Graveminder
Umhängetasche –, »um die Toten zu besuchen.«
Als er über die Tasche strich, klirrten die Flaschen.
Rebekkah schlug ihm die Hand weg. »Ich habe Maylene immer herbegleitet. Vielleicht hätte es … Es klingt töricht, aber vielleicht hätte es ihr gefallen, wenn ich ihre Aufgaben übernähme.«
»Das ist nicht töricht.« Byron fing ihren Blick auf. »Ich wusste, dass ich dich hier finde.«
»Wegen Maylene«, sagte sie.
»Und weil du bist, die du bist.« Byron ergriff ihre Hand, verschränkte die Finger mit den ihren und hielt sie fest. »Wir müssen reden, Rebekkah. Ich weiß, es ist ein schlechter Zeitpunkt, aber …«
»Hör sofort auf! Du hast gesagt, du lässt mir Freiraum. Du hast gesagt, du bist mein Freund. Ich weiß, dass ich … diejenige war, die dich geküsst hat, aber« – sie zerrte ihre Hand zurück – »ich bleibe nicht hier. Ich bleibe nirgendwo und bei niemandem, und du willst eine Beziehung.«
»Darüber wollte ich nicht reden. Aber fürs Protokoll – nein. Ich war nie ein Mann für feste Beziehungen, bei keiner Frau, die ich außerhalb von Claysville traf. Nur bei dir.« Er stand auf. »Inzwischen verstehe ich, warum das so ist.«
»Was verstehst du?«
»Ich war für dich da, Rebekkah.« Er schüttelte den Kopf und lachte freudlos. »Ich bin immer für dich da und muss vermutlich entweder die Brosamen annehmen, die du mir freiwillig hinwirfst, oder so tun, als wäre ich über dich hinweg. Vielleicht ist das schon seit Jahren meine Wahl, und ich war zu blöd, es zu erkennen. Was ich mit dir habe, werde ich mit keinem anderen lebenden Menschen erfahren.«
»Byron, es tut mir leid, aber …«
»Nein«, schnitt er ihr das Wort ab »Lüg mich nicht an!«
Sie blieb sitzen und sah zu ihm auf. Durch die Sonne, die hinter ihm aufging, wirkte er wie ein Friedhofsengel. Wie aus Stein gehauen und dunkel hob er sich vor dem Morgenhimmel ab. Er gehörte hierher, in die Stille des Friedhofs.
Zu mir, fiel ihr ein.
Sie schob den Gedanken ebenso schnell, wie er aufgestiegen war, wieder fort. »Ich habe nicht vor, ewig hierzubleiben«, sagte sie, ebenso an sich selbst wie an ihn gerichtet. »Schon jetzt bin ich viel länger in Claysville, als ich wollte.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Soweit ich weiß, kannst du gar nicht gehen. Darüber müssen wir reden, Bek.«
Durch das Sonnenlicht hinter ihm konnte sie seine Miene nicht erkennen, doch er klang, als meine er das ernst. Das machte sie nervös. »Was?«
Er blickte an ihr vorbei. »Hattest du je den Eindruck, dass sich die Hindernisse vervielfachen, je näher du deinem Ziel kommst? Wenn du das Falsche sagst … wenn du die kleinste Kleinigkeit anders gemacht hättest … wenn du besser wärst … wenn du gut genug wärst …«
»Byron?« Sie sprach seinen Namen mit weicher Stimme aus.
Wieder sah er sie an. »Mein Vater ist heute Nacht gestorben, und vorher hat er mir etwas gezeigt. Davon muss ich dir erzählen … und das muss ich dir zeigen.«
»O mein Gott … Warum hast du nicht gleich etwas gesagt? Warum hast du mich letzte Nacht nicht angerufen?« Sie sprang auf die Füße und umarmte ihn. »Es tut mir so leid! Was ist passiert? Als ihr beiden gegangen seid, schien es ihm gut zu gehen.«
»Er … Es klingt verrückt, Bek. Dad ist fort und … ich brauche dich.« Er legte die Hand um ihren Hinterkopf und zog sie mit dem anderen Arm an sich. »Ich brauche dich, Rebekkah. Ich habe dich immer gebraucht – genau wie du mich.«
Sie legte die Wange an seine Schulter. Trotz der verworrenen Gefühle füreinander war er ihr Freund, war es immer gewesen, und er stand offensichtlich unter Schock. Sie zog sich zurück und sah zu ihm auf. »Willst du reden? Ich bin kein Mensch, der gern seine Gefühle mitteilt, meine Mom aber schon. Wenn du also reden willst … Ich bin eine geduldige Zuhörerin. Wenn du erzählen willst, höre ich zu.«
»Ja«, gestand er, »aber nicht über Dad. Du wirst einen Mann treffen. Sein Name ist Mister D oder Charlie. Er wohnt auf der anderen Seite.«
»Auf welcher anderen Seite?«
»Im Land der Toten«, erwiderte Byron.
»Dem … was ?«
»Hör bitte einfach nur zu!« Er hielt inne, und als sie nickte, erzählte er es ihr: von Charlie, von der Totenwächterin und dass er der Undertaker war. Von dem Vertrag zwischen Claysville und den Toten. Er erzählte ihr von der seltsamen Welt, in der alle Zeitalter vereint waren, von dem Klub, in dem er mit den Toten getrunken hatte, und dass
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