Graveminder
Priester auf. Byron blieb zurück und hatte das Gefühl, mehr begreifen zu müssen, als er verarbeiten konnte. Wenn sein Vater recht hatte, brachte in seiner Stadt ein junges Mädchen Menschen um. Falls er bei Verstand war – und da war er sich nicht ganz sicher –, dann war er in ein Land gelangt, in dem die Toten wandelten, und hatte einen Vertrag unterzeichnet, den er nicht durchgelesen hatte. Wenn man seinem Vater, dem Geistlichen und einem Toten glauben wollte, war Rebekkah auf Gedeih und Verderb an denselben Vertrag gebunden. Seine Aufgabe bestand nicht nur darin, ihr diese Nachricht zu überbringen, sondern er musste auch für ihre Sicherheit sorgen – und sie zu den Toten führen.
Kein Problem, dachte er sarkastisch.
Er saß in der Küche, in der seine Mutter ihn einst nach der Schule mit Keksen und gutem Rat versorgt hatte. Wie hatte sie das bloß geheim gehalten?, fragte er sich. Er dachte an die Jahre vor dem Tod seiner Mutter zurück, an die Jahre nach Ellas Tod, an die vergangenen Monate, als er sich zur Heimkehr gedrängt gefühlt hatte. Die Puzzleteile passten alle zusammen. Solange er denken konnte, hatte es Gespräche im Flüsterton und Besucher zu später Stunde gegeben, und nach Ellas Tod war Maylene immer öfter bei ihnen zu Hause gewesen. Dass er mittlerweile den Grund für die Lügen und Geheimnisse kannte, dämpfte den Zorn nicht, der ihn zu überwältigen drohte.
»Mam? Worüber habt ihr mit Ellas Großmutter geredet, du und Dad?«
»Das musst du nicht wissen«, versicherte sie ihm. Dann hielt sie inne. »Dir ist doch klar, dass Rebekkah dich jetzt noch mehr braucht, oder?«
»Ich bin immer für Bek da. Das weiß sie.« Byron spürte Tränen auf den Wangen. Hier bei seiner Mutter durfte er um Ella, um Rebekkah, um sie alle weinen. Ann Montgomery würde ihn nie für schwach halten, weil er trauerte.
»Sie hat mehr verloren, als alle ahnen.« Ann zog ihn in die Arme. Der Geruch nach Vanille und ein Duft, der für ihn zu Hause bedeutete, erfüllten die Luft. »Sie braucht dich.«
»Ich war schon vorher mit Bek befreundet. Nicht nur deshalb, weil sie Ellas Schwester ist … war . Daran wird sich nichts ändern.« Byron löste sich aus der Umarmung seiner Mutter. »Ich bin doch kein rücksichtsloser Egoist.«
»Oh, ich weiß, Schatz.« Sie legte die Hände um sein Gesicht. »Ich kenne dich doch, und ich bin stolz auf dich. Es ist nur … manchmal verwirrend …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende und umarmte ihn.
Damals hatte Byron geglaubt, sie habe ergänzen wollen: »ein Teenager zu sein«, »ein Mann zu sein« oder sogar »mit einem Mädchen befreundet zu sein«. Er hatte nicht geahnt, dass sie von der Beziehung zwischen Undertaker und Graveminder geredet hatte. Dass seine Zukunft bereits festgelegt war und er nicht danach gefragt würde. Sie hatte es damals schon gewusst, und zwar seit seiner Geburt.
Früher war er der Meinung gewesen, dass Ella und er ein Paar geworden waren, weil seine Eltern ihrer Großmutter nahestanden. Sie hatten sich so oft getroffen, dass er nicht hätte sagen können, wann ihre Beziehung begonnen hatte. Sie waren von besten Freunden zu einem Liebespaar geworden, waren füreinander bestimmt gewesen und hatten ideal zusammengepasst. Wie mochte sie sich gefühlt haben, als sie die Wahrheit erfuhr? Nicht zum ersten, ja, nicht einmal zum fünfzigsten Mal wünschte er sich, Ella hätte mit ihm geredet.
Das zweite Telefon klingelte.
»Byron?«, rief seine Mutter.
»Ich gehe schon ran.« Er hob den Hörer ab.
Weil das Telefon der Familie hauptsächlich geschäftlich genutzt wurde, hatten seine Eltern ihm vor ein paar Jahren ein eigenes zum Geburtstag geschenkt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht verstanden, was daran Besonderes sein sollte, aber im Lauf des vergangenen Jahres war es immer wichtiger geworden. Wenn er nicht mit Ella zusammen war, telefonierte er mit ihr.
»Hi.«
»Hi, ich wollte mich gerade fertigmachen und zu dir …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich kann dich nicht mehr treffen.«
»Was?« Er setzte sich. »Ella …« In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken so schnell, dass er nicht sprechen konnte. »Ich verstehe nicht … warum? Wenn es daran liegt, was ich über Bek gesagt habe, darüber, was passiert ist … Das war nur ein Kuss, und wir wollten das nicht. Ich liebe dich und …«
»Ich weiß.« Sie stieß ein missglücktes Lachen aus. »Aus diesem Grund hätte ich mich auch fast nicht von dir getrennt. Es ist
Weitere Kostenlose Bücher