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Graveminder

Graveminder

Titel: Graveminder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Marr
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gut, dass du meiner Schwester gegenüber solche Gefühle hast. Es bedeutet, dass du ein Mensch bist, normal und nicht einfach nur programmiert.«
    »Programmiert?«
    »Wir können selbst denken. Du tust nicht einfach, wozu du gezwungen wirst. Und ich auch nicht.« Sie schluchzte. »Das ist gut. Wählen zu können, was man tut, wer man ist, womit man sich gern beschäftigt, wen man …« Sie verstummte, und Byron wurde plötzlich ganz übel.
    »Hat dir jemand etwas angetan?« Ihm kamen die Worte kaum über die Lippen, aber er sprach sie trotzdem aus. »Hat dich jemand zu etwas gezwungen? Sprich mit mir, Ells!«
    »Ich glaube, ich habe dich schon geliebt, bevor ich wusste, was Liebe bedeutet«, flüsterte sie. »Ich liebe dich wirklich, Byron, von ganzem Herzen, mit meinem Körper, mit allem.«
    Byron lehnte den Hinterkopf an die Wand. Diese Worte hatte Ella unzählige Male zu ihm gesagt. Bei ihrem ersten Mal hatte sie sie ihm immer wieder zugeflüstert. Kürzlich abends hatte sie sie lachend ausgesprochen. Sie hatte sie so oft, an so vielen Orten gesagt, dass es ihm nicht einmal peinlich gewesen war, als Freunde dabei gewesen waren.
    »Es ist nicht genug. Ich wünschte, es wäre so, aber es ist nicht genug. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass sich für dich und Bek alles verändern wird.« Ellas Stimme gewann an Festigkeit. »Aber ich treffe meine Entscheidung. Jetzt.«
    »Du machst mir Angst«, gestand er. »Ich komme zu dir, und wir reden und …«
    »Dann bin ich nicht mehr da.« Sie rang nach Luft. »Ich muss … irgendwohin. Ach, könntest du doch mitkommen und es sehen. Eines Tages wirst du es können. Nur noch nicht gleich … und ich kann es nicht abwarten. Es ist gemein, es zu sehen und gleichzeitig gesagt zu bekommen, dass ich es noch jahrelang nicht haben kann … oder vielleicht nie. Ich muss gehen.«
    »Warte!« Er schob schon die Füße in die Schuhe und verfluchte den Umstand, dass er nicht weiter mit ihr telefonieren konnte, während er zu ihrem Haus rannte. »Ich begleite dich, wohin du auch gehst, Ells!«
    »Ich liebe dich. Versprich mir, dass du auf Rebekkah aufpasst.« Sie unterbrach sich und schniefte. »Versprich es! Sie braucht Liebe.«
    »Sie ist deine Schwester, Ells. Ich werde nicht …«
    »Versprich es!«, beharrte Ella. »Das ist mein letzter Wunsch. Kümmere dich um sie! Sag mir, dass du es tust!«
    »Nein, nicht, wenn … dein letzter Wunsch? Wovon redest du?« Byron umklammerte den Hörer.
    »Liebst du mich?«
    »Das weißt du doch.«
    »Dann versprich mir, dass du immer auf Bek aufpasst!«, verlangte Ella.
    »Ja, aber …«
    Sie legte auf.
    Byron hatte das Telefon fallen gelassen und war zu ihr nach Hause gerannt, aber als er dort ankam, war sie fort gewesen. Niemand hatte gewusst, wohin sie gegangen war. Das erfuhren sie erst am nächsten Tag, als ihre Leiche gefunden wurde.
    Byron begriff: Ella war nicht vor etwas weggelaufen, sondern zu etwas hin. Was immer sie im Land der Toten gesehen hatte, verlockte sie stärker als ihre Existenz im Land der Lebenden.
    Und jetzt muss ich Bek in diese Welt bringen, dachte er.

27. Kapitel
    Rebekkah hatte zu schlafen versucht, aber sie konnte nicht. Nach ein paar Stunden unruhigen Schlummers war sie wieder unterwegs. Dieses Mal allerdings sah sie auf dem Weg zum Friedhof die Sonne aufgehen. Tag zwei ohne Maylene. Im Lauf der Jahre hatte sie an verschiedensten Orten gelebt und oft lange – wochenlang – nicht mit ihrer Großmutter gesprochen, aber nun, da sie zu Hause war, breitete sich jeder Tag düster vor ihr aus.
    Wenn sie Maylene besucht hatte, waren sie von Friedhof zu Friedhof gegangen, hatten Unkraut gejätet und Blumen gepflanzt. Sie hatten Essen knapp unter dem Boden vergraben und Whisky, Gin, Bourbon und alle möglichen anderen Spirituosen auf den Boden gegossen. Es hatte sich nicht gerade normal angefühlt, aber auch nicht besonders eigenartig.
    Rebekkah vermochte die Lücke in ihrem Leben, die Maylene hinterlassen hatte, nicht zu füllen, aber es half ihr, die Routine fortzusetzen, die sie im Lauf der Jahre mit ihrer Großmutter geteilt hatte. Ja, so sehr, wie eine Handvoll Erde hilft, einen Abgrund zu füllen, dachte sie. Ein weiteres Mal verlagerte sie das Gewicht der großen Umhängetasche. Das Klirren von Glasfläschchen war fast zu leise, um die vorüberfahrenden Autos und das Vogelgezwitscher zu übertönen, aber sie lauschte dem Geräusch. Alles – der Vogelgesang, die Automotoren, die zum Leben erwachten, und

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