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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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die das Leben im Herzen des neuen Europa durchweht. Die zurückhaltende Anonymität der Gebäude ist das äußere Symptom von etwas Tieferliegendem, das seinen Ursprung im noblen, aber ein wenig unheimlichen Ziel eines endgültigen Konsensus hat, einer Beendigung der brutalen dionysischen Geschichte des Kontinents.
    Verordnungen, Statistiken, Weisungen und Aktionspläne: In der Sprache des EU-Viertels herrscht Ordnung, und mit der Ordnung kommt die Gewalt, die in die schroffen Außenflächen des Berlaymont Building, in die Uniformen der gelangweilten Polizei übersetzt ist, die vor dem Parlament Wache steht. Es ist eine Gewalt, die in Sprache gekleidet und von ihr zunehmend umschlossen und gezähmt worden ist, bis sie die sanfte Tönung und das gedämpfte Licht des übrigen europäischen Projekts angenommen hat. Diskrete Gewalt wie überwachtes Privatleben und humanitärer Krieg. Typisch europäische Paradoxe.
    Guy wurde mit Vollgas die Rue de la Loi entlangchauffiert. Der Beifahrersitz von Yves’ Porsche roch nach Leder und der Bewunderung von seinesgleichen. »Ich bin so aufgeregt«, sagte Yves, und am Steuer seines gelben Wagens, in dem ihm die Straßenlaternen ins Gesicht leuchteten, sah er aus wie die Zukunft in menschlicher Gestalt.
    »Ich auch«, sagte Guy. Er meinte es ehrlich. Er hatte das ganze übrige Kokain geschnupft, ehe er ins Flugzeug gestiegen war. Sein Herz fühlte sich an, als wollte es sich aus seinem Brustkorb ins Freie hämmern.
    Sie parkten den Wagen auf der Straße und betraten das Foyer eines Stadthauses des 19. Jahrhunderts, das in ein Boutiquehotel umgebaut worden war. Die Umgestaltung, erklärte Yves, sei das Werk eines Revolutionärs. Guy war sich nicht sicher, ob damit das politische Engagement oder die ästhetische Leistung des Designers gemeint war. Die Lobby war mit ihrem Understatement schon wieder extrem. Die Wände schienen mit einem sanften inneren Leuchten zu glühen, und das Personal trug lange weiße Tuniken wie die Vertreter einer gütigen höheren Zivilisation in einem Sciencefiction-Film.
    Das Restaurant Seraphim befand sich unter einer Glaskuppel auf dem Dach. Der Oberkellner begrüßte sie neben der Büste eines rauschebärtigen Mannes. Guy sah König Leopold II. an, und König Leopold II. sah Guy an, der seine Krawatte darauf kontrollierte, ob sie gerade saß. Er schwitzte.
    Elegante Kellner schwebten zwischen den Tischen umher, die mit Gruppen sich leise unterhaltender Personen besetzt waren. Die Stammgäste, Männer und Frauen, trugen die Anthrazitgrau- und Marineblautöne von Vertrauen und Rechtschaffenheit, die ein mit nüchterner Geschäftskleidung ausgefülltes Sichtfeld bildeten, das nur gelegentlich von einer gemusterten Krawatte oder einem silbernen Schmuckstück durchbrochen wurde. Ein scharfsinnigerer Beobachter als Guy hätte vielleicht das nicht Enträtselbare an diesen kleinen persönlichen Noten bemerkt, als seien sie nicht Produkte echter Geschmacks- oder Haltungseigenarten, sondern als sei ihre Funktion nur rituell, als seien sie Hilfsgesten für die Idee der Individualität und nicht Beispiele ihrer Ausübung.
    Sie wurden zu einem Tisch am Fenster geführt. Frau Direktor Becker und Signor Bocca warteten bereits. Man stellte sich gegenseitig vor, und die Direktorin, eine adrette Blondine von Anfang vierzig, brachte ihnen die Nachricht bei, dass Gunnar Nilsson nicht in der Lage sein werde, am Dinner teilzunehmen. Guy atmete heftig und lächelte Frau Becker und dem schmalgesichtigen Italiener neben ihr zu. Er versuchte, Nilssons Abwesenheit nicht als Rückschlag zu betrachten. Diese Sache falle ebenso sehr in ihre Zuständigkeit, und sie werde, sagte sie, die Auftragssitzung leiten. Das war zumindest etwas. Er versuchte sich zu zwingen, nicht mehr zu schwitzen. Sein Hemd klebte ihm am Rücken.
    Yves begann über eine Inszenierung von Aida zu plaudern, die er und die Direktorin in Verona besucht hatten. Guy zuliebe sprach er Englisch, wobei er kunstvolle Sätze baute, denen sich die Direktorin Satz für Satz als ebenbürtig erwies, so dass die beiden so etwas wie einen Fremdsprachen-Fechtkampf vorführten. Bocca, dem das Thema offensichtlich die Gelegenheit geben sollte, sich einzumischen, blickte stumm auf seine Hände. Er hatte sie mit den Handflächen nach unten auf das weiße Tischtuch gelegt und musterte aufmerksam seine langen Finger, als wolle er entscheiden, welchen er sich als Ersten abschnitt.
    »Erzählen Sie mir über Ihre Arbeit«, bat ihn

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