Grayday
schlafen. Sie zog die Vorhänge zu, ließ ihre Kleider in einem unordentlichen Haufen auf den Boden fallen und kroch unter die Decken. Nach einer Weile schaltete sie den Fernseher ein und verbrachte eine Stunde damit, ziellos zwischen einer Soap opera und den Lokalnachrichten hin und her zu zappen, in denen es ausschließlich um Streitigkeiten über Fisch zu gehen schien. Schließlich holte sie aus ihrer Reisetasche eine Gesichtsmaske und zwei Ohrstöpsel und beschloss, die Welt so lange wie möglich auszuschließen. In der Gewissheit, irgendwo ein paar Valium zu haben, stand sie noch einmal auf und hockte auf dem Badezimmerboden vor dem ausgekippten Inhalt ihrer Toilettentasche. Sie hatte Glück. Dreißig Milligramm später schlüpfte sie zurück ins Bett und streckte sich aus.
Das Nächste, was sie bemerkte, war, dass es dunkel und ihr Mund wie ausgetrocknet war und dass es in ihrem rechten Ohr beharrlich summte. Das Geräusch entpuppte sich als ein klingelndes Telefon, das verstummte, als sie danach griff, und sie in einer halbwachen Verwirrung zurückließ. Sie war gerade wieder eingeschlafen, als jemand an ihre Tür klopfte und ihren Namen rief.
»Wer ist da?«, krächzte sie.
»Davey aus der Rezeption, Miss Caro.«
»Lassen Sie mich in Ruhe.«
»Könnten Sie die Tür öffnen?«
»Ich habe gesagt, lassen Sie mich in Ruhe.«
»Miss Caro?«
Schließlich wickelte sie sich in einen Kimono und fragte den verlegenen Nachtportier, was er wolle. Es sei ein Päckchen für sie da. Nein, er könne es nicht bis morgen Früh aufbewahren, weil der Kurier ihre Unterschrift brauche. Es tue ihm Leid, sie geweckt zu haben. Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es ein Uhr war. Sie hatte ungefähr fünf Stunden geschlafen. Missmutig trottete sie auf bloßen Füßen nach unten, unterschrieb den Beleg des Kuriers, ging wieder nach oben und warf sich auf das Bett. Als sie Guys Adresse auf dem Frachtbrief sah, ging es mit ihrer Stimmung bergab. Sie riss die Verpackung auf und öffnete das Kästchen.
Die Halskette war wunderschön. Wunderschön und protzig und irgendwie traurig. Einen Moment lang empfand sie fast Zuneigung für Guy, mit seiner absurden Überzeugung, Geld könne alles richten. Dann sah sie das Kärtchen.
Beeindruckt? X G
Und das brachte ihr die Leere ihres Lebens voll zu Bewusstsein. Drei Jahre hatte sie mit diesem Mann verbracht. Er hatte ihr nichts zu sagen.
Das alte Gefühl wallte in ihr wieder auf, das Bedürfnis, sich loszureißen und wegzulaufen. Morgen würde sie hier abreisen. Dann würde sie aus London weggehen und Guy verlassen. Wieder von vorn anfangen. Sie dachte an Flugzeuge und ans Packen, als wieder an ihre Tür geklopft wurde. Sie ignorierte es, aber das Klopfen nahm kein Ende.
Sie riss die Tür auf und erblickte Rajiv Rana vor sich. Er sah zerzaust aus.
»Sie? Glauben Sie keine Sekunde, dass ich Sie reinlasse. Sie können zur Hölle fahren, Sie arroganter Dreckskerl.«
»Ist sie bei Ihnen?«
»Wovon reden Sie? Gehen Sie und reißen Sie sich eine von den Tänzerinnen auf, wenn Sie so scharf sind.«
»Sie ist weg«, sagte er. »Ist sie bei Ihnen?«
»Wer ist weg?«
»Sie. Leela. Es ist niemand in ihrem Zimmer.«
»Wahrscheinlich ist sie draußen und macht einen Spaziergang. Geht an den See, eine rauchen. Warum belästigen Sie mich damit?«
Sie schlug die Tür zu. Dennoch trat sie ans Fenster. Sie sah die Burg, die wie eine Fata Morgana über dem See schwebte. Sie sah die düstere Kiefernanpflanzung. Die Rasenfläche dehnte sich leer in die Dunkelheit.
W ie in allen Arealen, die der Regierung und Verwaltung vorbehalten sind, ist im Brüsseler EU-Viertel das Physische rücksichtslos dem Immateriellen, den Erfordernissen der Sprache untergeordnet worden. Es ist ein Bereich mit dezenten Bürotrakten und stillen Parks, des Reichtums ohne Protzerei, des Luxus ohne sichtbare Verschwendung. Diplomaten aus 160 Botschaften mischen sich unter Repräsentanten von 120 Regierungsorganisationen und 1400 verschiedenen nicht an Regierungen gebundenen Organisationen, die alle zusammen die modernste europäische Kunst zu perfektionieren versuchen: die Ausübung von Kontrolle ohne Zurschaustellung von Macht.
Dementsprechend findet man im EU-Viertel nicht die geringste Andeutung von faschistischem Bombast. Allerdings hat sich eine Spur des unheilvollen Neoklassizismus in seiner Architektur erhalten und ist seltsamerweise auch in der Atmosphäre zu spüren,
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