Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
Vom Netzwerk:
spürte überhaupt nichts. In seinem Kopf brodelte es von pornografischen Phantasien, aber sie hatten alle irgendwie nichts mit seinem Körper zu tun. Er fühlte sich betäubt, erschöpft. Eine Erektion würde viel Willenstärke erfordern.
    Entspanne dich, Guy, sagte er sich. Yves hatte Recht. Es war ein Spaß. Aber er sah aus dem Fenster auf eine Straße mit verdunkelten Häusern und fragte sich besorgt, wo sie wohl hinfuhren. Es war drei Uhr morgens. Sie fuhren hinaus in die Vororte.

D ie Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ist eine der am strengsten kontrollierten Grenzen der Welt. Von Brownsville, Texas, bis an die kalifornische Küste erstreckt sie sich über 3300 Kilometer, überwacht von bewaffneten Patrouillen, die mit Wärmebildkameras und Bewegungsmeldern, tragbaren Röntgengeräten, GPS-Optiksystemen, Satellitenkarten und anderen Techniken ausgerüstet sind. Sie sollen verhindern, dass Waren, Fahrzeuge und Menschen unbefugt die Grenze überqueren. In San Ysidro gleich südlich von San Diego münden 24 Fahrspuren in ein raffiniertes System aus Betonbarrieren, die es Fahrzeugen nahezu unmöglich machen, zu wenden oder zurückzusetzen, während ihre Details mit Datenbanken abgeglichen werden und dressierte Hunde ihre Radkästen beschnüffeln.
    Auf der Nordseite der Grenze liegt ein Outlet Center, in dem unter roten Ziegeldächern mit falschen Lehmziegelfassaden stapelweise Billigjeans und Sportschuhe von schläfrigen Angestellten verkauft werden, die den ganzen Tag auf den Parkplatz hinausblicken.
    Arjun kam mit dem morgendlichen Käufer-Pendelbus an, der die Fahrt vom Zentrum San Diegos in zwanzig Minuten zurücklegte. Ihm ging das alles zu schnell. Er benötigte mehr Zeit zur Vorbereitung. Eine Weile stand er auf einer Straßenbrücke über dem Freeway und beobachtete, wie die Fahrzeuge im Schritttempo auf die Barrieren vorrückten, dann bahnte er sich im Zickzack den Weg zurück zu dem Einkaufszentrum und blieb stehen, um in das Schaufenster eines Schuhgeschäfts zu sehen. Konnte man gefahrlos einfach aus Amerika hinausspazieren? Genau das taten alle anderen. Sie gingen einfach nach Mexiko. Das war zu einfach. Sollte er Vorsichtsmaßnahmen ergreifen?
    Er entschied sich für eine Verkleidung. An dem Stand neben dem Schuhladen kaufte er sich eine Sonnenbrille und setzte sie sofort auf. Als er sich ein paar Minuten später in der Schaufensterscheibe von Laura Ashley erspähte, blieb er stehen, um das Preisschildchen abzubeißen. Dann lief er weiter und schlenderte ziellos von Nautica zu Levis und weiter zu Banana Republic.
    Der erste Anblick von Mexiko hatte ihm Angst gemacht. Hinter den Parkplätzen und Frachthöfen befand sich auf der amerikanischen Seite ein breites betoniertes Flussbett. Dahinter erhob sich eine niedrige Hügelkette, die dicht mit flachdachigen Schlackenblockhäusern bestanden war. Die Luft war dunstig und mit dem Gestank von Öl und Abwässern erfüllt. Über der düster wirkenden Stadt auf der anderen Flussseite hing eine riesige mexikanische Flagge schlaff an einem hohen Mast. Als Arjun die Fahne sah, elend schlaff vor gelbgrauem Himmel, wusste er nicht, was ihn mehr ängstigte: die Möglichkeit, dass er geschnappt würde, oder die Möglichkeit, dass er davonkäme. Tagelang war die Grenze das Äußerste gewesen, bis wohin seine Vorstellungskraft reichte. Jenseits davon gab es nur abstrakte Begriffe: Entkommen, Freiheit, Zukunft. Jetzt besaß die Zukunft eine Landschaft, ein Durcheinander von Flachdächern, zwischen denen sich Telefon- und Leitungsdrähte spannten und wo die Ladenschilder und Werbetafeln in einer Sprache geschrieben waren, die er nicht verstand. Was für ein Leben konnte er dort drüben erwarten?
    Der Ort auf der anderen Seite des Flusses hatte etwas Hoffnungsloses, ganz und gar nicht wie das Mexiko in Cowboyfilmen. Wo waren die Kakteen, die weiß gekleideten Bauern mit den großen Hüten? Er durchstöberte neurotisch Regale mit Souvenir-T-Shirts. Ihre humorigen Slogans (one tequila, two tequila, three tequila, floor!) gingen ihm durch den Kopf. Er griff zu Schneekugeln und blätterte systematisch Ansichtskarten durch, die zu kaufen er nicht vorhatte, während ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde. Unter den Armen seines rosa Polohemds (das er inzwischen zweiundsiebzig Stunden auf dem Leib trug) hatten sich große Schweißflecken gebildet. Er beschloss, einen Kaffee zu trinken. Kaffee war seiner Erfahrung nach ein Getränk mit negentropischen

Weitere Kostenlose Bücher