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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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einfach nicht. Er hatte Erfolg in Amerika. Er war groß eingeschlagen.
    Sein Kopf fühlte sich an, als klemmte er in einem Schraubstock. Sie konnten ihn nicht zwingen, die Firma zu verlassen, wenn er nur stur genug war. Was wäre, wenn er ihnen zeigen könnte, wie tüchtig er war? Dann würden sie sich anders besinnen und einen anderen feuern. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte sich auf seinen Monitor zu konzentrieren.
    Zwei Wochen? Der Blick aus seinem Schlafzimmerfenster. Die Berge, die auf einem Nebelmeer schwammen. Nur noch zwei Wochen mit diesen Bergen, dann zurück nach Kalifornien. Die grelle, weiße Sonne, die auf den Beton brennt. Und was war mit Chris? Er konnte sie jetzt nicht verlassen. Selbst nach monatelangem Arbeiten hatte er keine Ersparnisse. Er würde nicht länger als ein paar Wochen auf der Bank durchhalten. Dann würde er nach Indien zurückmüssen.
    Und alle würden die Wahrheit erfahren.
    Er gab dem Telefon die Schuld. Es machte das Lügen zu einfach. Zu Anfang, als er gerade in die Staaten gekommen war, hatte er nur geschwindelt, damit sich seine Eltern keine Sorgen machten. Und dann hatte Priti sich so beeindruckt gezeigt, sie war so stolz auf ihren großen Bruder in Amerika gewesen. Aamir auch. Die Geschichte hatte ein Eigenleben angenommen. Ja, Maa, mir geht es gut …
    So wie seine Mutter plauderte, hatte sie es inzwischen wahrscheinlich allen Leuten in Noida erzählt. Seine Geschichte. Seine Version. Maa, heute ist etwas Wunderbares passiert … Dass ihr Sohn seit dem Augenblick, da er aus dem Flugzeug gestiegen war, auf der Überholspur zum Erfolg fahre. Dass ihr beta bei der weltberühmten Computerfirma Oracles technische Probleme gelöst habe, mit denen Larry Ellison jahrelang nicht fertig geworden sei, dann aber eine Firmenbeteiligung abgelehnt habe, um bei Virugenix die Computervirenabteilung zu leiten. Dass ihr kleiner Sohn nun zur Elite gehöre. Dass er Umgang mit Geschäftsleuten und Politikern habe. Dass er beim Abendessen neben David Hasselhoff gesessen habe.
    Er konnte unmöglich nach Indien zurückkehren. Er würde Schande über seine Familie bringen.
    Die Luft im Büro war stickig. Seine Kollegen taten, als beobachteten sie ihn nicht, während sie heimlich um ihre Kabinenwände spähten. Er musste nachdenken. Er musste das Virus finden.
    Hinter dem Michelangelo Building gab es ein Areal mit Holzfußboden, auf dem weiße Cafeteriatische aus Metall verteilt waren, mit einem Loch in der Mitte für den Sonnenschirm. Leute kamen hierher, um ihr Mittagessen zu verzehren oder informelle Gespräche zu führen. Er stahl sich aus dem Büro und ging hinunter ins Freie. Von einem der Tische aus beobachtete er eine Krähe, die an einem Joghurtbecher herumpickte, Überrest eines Mittagessens, der entgegen den Vorschriften nicht in den dafür bereitgestellten Abfallkorb geworfen worden war.
    Es war eine prächtige Krähe. Ihre schwarzen Knopfaugen funkelten boshaft. Er ertappte sich dabei, dass er die Federn zählte: eins, zwei, fünf, zehn, bis er von dem Licht abgelenkt wurde, das durch die Nadeln der hohen Koniferen fiel, die das Firmengelände säumten. Ein Schild, das an die Mauer neben der Feuertür geschraubt war, teilte mit: Virugenix hat diesen Bereich gärtnerisch unter Verwendung von Pflanzen aus dem Staat Washington gestaltet, zur Förderung einer Haltung, die unser Naturerbe achtet und bewahrt. Ja, dachte er, das stimmt, alles wirkte kostbar und vollkommen. Die dichten grünen Zweige der Bäume filterten die Sonnenstrahlen, und der Boden neigte sich in einer geordneten Masse einheimischer Gräser. Arjun trat von der Terrasse herunter und kniete plötzlich nieder. Er strich mit den Händen über das Gras. Es war fein und weich und dicht wie Haar. Jetzt blendete ihn das Sonnenlicht. Die Welt schien sich aufgelöst zu haben und durch eine Reihe von Prismen auf ihn einzudringen. Sein Gesicht war nass. Er bemerkte, dass er weinte.
    »Ist alles in Ordnung?« Die Stimme klang besorgt. Als Arjun sich umdrehte, erkannte er einen Typen aus Singapur, der im Diagnostik-Produktteam arbeitete. Er hob den Arm zu einem schwachen Gut-danke-Abwinken. Der Singapurer winkte ebenfalls und wich zurück, ohne ihn vorerst aus den Augen zu lassen. Als er sich endlich überzeugt hatte, dass kein Drama bevorstand, drehte er sich um und verschwand im Gebäude. Arjun verharrte noch eine Zeit lang auf den Knien und strich mit den Händen über den Rasen. Schließlich erhob er sich und

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