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Grayday

Grayday

Titel: Grayday Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hari Kunzru
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unwichtig. Essen war unwichtig, obgleich er irgendwo tief in seinem Inneren wusste, dass er hungrig sein musste. Wichtig war jetzt nur das Nachdenken. Das Abendlicht war weich und gelb. Er blickte auf die drei Zweige, die von seinem Fenster eingerahmt wurden. Wie viele Nadeln? ed ee ef f0 f1 f2 …
    Ein paar Stunden saß er da und zählte. Das Licht um ihn herum schwand. Er konnte nicht nach Indien zurückkehren, also musste er Virugenix dazu bewegen, ihn zu behalten. Zergliedere das Problem. Denke dir eine Zahl.
    Dann fiel es ihm ein. Er kramte in dem Müll herum, der über den Fußboden verteilt war, und zerquetschte mit dem Fuß einen kleinen Plastikbehälter mit Milch. Ein Strahl Weiß spritzte über den Teppich. Bewahre dir stets deinen Samen. Er ist deine Kraft. Unter einem Haufen Papieren fand er einen Teller, auf dem etwas wuchs. Hinter dem Schreibtisch klemmte die linke chappal, die er schon verloren geglaubt hatte. Er fand Briefe von seiner Schwester und eine Asha-Bhosle-CD. Alles nützlich, aber nicht das, wonach er suchte. Endlich fand er es: eine zerfledderte Ausgabe der Zeitschrift Filmfare vom letzten Monat. Ja, da drin war es. Er hatte Recht.
    Denke dir eine Zahl.
    13 06.
    13. Juni. Leela Zahirs Geburtstag. In nur zwei Tagen.

A rjun sah das erste Mal einen Computer, als er zehn Jahre alt war. Es war ein 286er PC, und er gehörte seinem Vetter Hitesh, dessen Vater, um die Bildung seines Sohnes besorgt, ihn von einer Geschäftsreise nach Amerika mitgebracht hatte. Hitesh bildete sich, indem er Solitär spielte und seinen Punkterekord in einem Side-scrolling-Spiel zu brechen versuchte, in dem man unter anderem von einem Hubschrauber aus ein Dorf bombardierte. Meistens stand das Gerät grau und unbeaufsichtigt in Hiteshs Zimmer und summte eindrucksvoll vor sich hin. Arjuns Familie war für eine Woche nach Bombay gereist, und während Hitesh sich im Nebenzimmer Actionfilme auf einer Laserdisk ansah, brachte Arjun ungestört einige Stunden damit zu, die Innereien dieses außergewöhnlichen Objekts zu erforschen. An jeder Biegung wurden ihm Knüppel zwischen die Beine geworfen. Path not found. Sector not found. Ihm wurden Fragen gestellt, die keinen Sinn ergaben.
    Abort, retry, fail?
    Als er auf eine Taste drückte und das kryptische Pulsen der DOS-Eingabeaufforderung sich in eine Grafik auflöste, erwachte in ihm der Verdacht, etwas Lebendiges müsse sich im Inneren des Apparats befinden.
    File creation error.
    Als Arjun dreizehn war, hatte er schon lange die Theorie aufgegeben, dass im Inneren von Computern wirklich etwas Lebendiges verborgen sei. Aber etwas Geheimnisvolles hielt sich beharrlich, eine Spur, die Gegenwart eines Lebensfunkens. Ein startender Computer erschafft sich selbst aus dem Nichts, jede Tätigkeitsphase bereitet den Boden für die nächste. Eine winzige Menge Elektrizität, die in einen ruhenden Chip fließt, befähigt ihn, einen Aufruf an Komponenten zu richten, die darauf an einem simplen Austausch von Instruktionen teilnehmen, einer Aufstellung von Begriffen und Bedingungen, die einen komplexeren Austausch bewirken, und noch einen, Sprachschicht auf Sprachschicht, die entstehen, bis die Darstellung eines Ferienfotos oder der Schwung eines Pfeils quer über ein Spreadsheet denkbar werden, deren Bedeutungen tief hinab bis in die binäre Einfachheit reichen.
    Arjun erkannte flüchtig ein Geheimnis in dieser Ja-Nein-Logik. Er wollte mehr Zeit am Computer verbringen, erbat oder stahl sie sich, wo er konnte: in Bibliotheken, College-Arbeitsräumen, den Häusern reicherer oder vom Glück gesegneter Schulfreunde. Alles war ihm recht: Handelsgott-Spiele, Städte und Armeen, die schlichte Welt verschiedenfarbiger Gänseblümchen, Anordnungen digitaler Zellen, die sich gegenseitig von Rot auf Blau schalteten. Als er Populationen von Computergeschöpfen beim Heranwachsen und Sterben beobachtete, bemerkte er, dass er über Maßstab nachdachte und sich auf teenagerhafte Weise fragte, ob seine eigene Welt nichts weiter als ein gigantisches Programm sei, ein Goldfischglassystem, das zum Zeitvertreib anderer kosmisch gelangweilter Halbwüchsiger in Gang gesetzt worden war.
    Wahr oder falsch?
    Bald trat er den Rückzug von diesem System an, durchgerüttelt von der Pubertät, von der Peinlichkeit des Umgangs mit anderen Leuten. Die Menschen waren voller Abgründe, eine wahre Hölle. Ihre Brutalität, ihre Vagheit, ihre verborgenen Motive und unerklärlichen Stimmungswechsel hatten sich zu einer

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